»Ja, ich komme sehr gern«, sagte Nicole und konnte ihre Freude kaum verbergen. »Sagen Sie Sina, daß ich mich sehr freue, am Picknick teilnehmen zu dürfen.«
Thomas hätte am liebsten auch einen Luftsprung gemacht.
»Gut, dann holen wir Sie am Sonntag um zehn Uhr morgens ab, wenn es Ihnen recht ist«, sagte er schließlich.
»Und ob mir das recht ist!« rief Nicole begeistert aus. Wie schön, daß sie an diesem Sonntag nicht allein grübelnd in der Wohnung sitzen mußte, sondern den Tag mit Thomas und dessen Töchterchen verbringen durfte…
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Am Samstagabend konnte Nicole vor Aufregung kaum einschlafen. Sie verdrängte den Gedanken an ihren Sohn, obwohl ihr dies nicht ganz gelang. Ein wenig hatte sie auch Angst vor der Begegnung mit Sina. Wie würde die Kleine auf sie reagieren? Ihr Vater schien ihr ein und alles zu sein – würde das Mädchen nicht eifersüchtig sein, daß sie, Nicole, so viel Zeit mit ihm verbrachte?
Etwas bange war ihr auch, daß sie durch den Anblick des Kindes wieder auf schmerzliche Weise an ihren eigenen Sohn erinnert werden könnte. Noch immer schmerzte es sie, wenn jemand über seine Kinder redete – obwohl das bei Thomas ganz anders war. Sie mochte es, wenn er kleine Anekdoten aus dem Leben seiner Tochter erzählte, hatte bei ihm nicht ständig das Gefühl, die schönste Zeit mit ihrem Sohn zu verpassen…
Am Sonntag erwachte Nicole früh am Morgen, doch die Sonne war schon aufgegangen und versprach einen schönen Tag zu bescheren. Nach dem Duschen stand Nicole nachdenklich vor ihrem Kleiderschrank. Was zog man zu einem Picknick mit seinem Chef und dessen Tochter an? Zu leger wollte Nicole nicht erscheinen, aber auch nicht so elegant wie im Büro.
Nach langem Hin und Her entschied sie sich für eine gutsitzende Jeans, einer kurzärmeligen Bluse mit Blümchenmuster und Turnschuhen. Um die Hüften wickelte sie sich einen Pullover, falls es kühler werden sollte.
Pünktlich um zehn Uhr läutete es an Nicoles Tür. Sie sprang fast die Treppe hinunter. Vor der Haustür stand Thomas, auch er trug Jeans und ein dunkelblaues Polohemd.
»Sina wartet im Wagen und ist schon ganz aufgeregt«, sagte er schmunzelnd. »Sie redet seit dem Aufstehen von nichts anderem.«
»Oje, hoffentlich ist sie nicht zu sehr enttäuscht von mir!« sagte Nicole lachend und sah mit komischer Miene an sich herunter.
»Sie sehen bezaubernd aus«, sagte Thomas, »Sina wird von Ihnen begeistert sein.«
Nicole wurde vor Verlegenheit rot, wie so oft in letzter Zeit. Sie ging an Thomas’ Seite mit klopfendem Herzen zu seinem Wagen, der an der Straßenecke geparkt stand. Schon von weitem konnte Nicole ein niedliches Gesichtchen mit lockigem Blondhaar im Wageninneren sehen. Als sie näher kamen, winkte ihnen Sina durch die geschlossene Fensterscheibe fröhlich zu. Nicole wußte sofort, daß sie die Kleine in ihr Herz schließen würde.
Das Kennenlernen war dann auch ganz einfach. Thomas stellte Nicole als seine Bekannte vor, die außerdem als seine Sekretärin arbeitete, und Sina zeigte ihr stolz ihre Lieblingspuppe Flo, die immer dabeisein mußte und augenscheinlich schon bessere Tage gesehen hatte.
Der Platz, den sich Thomas ausgesucht hatte, lag am hinteren Teil des Sees, wo sie ganz ungestört waren.
»Hierher gehen wir schon seit zwei Jahren«, berichtete Thomas, während er eine Decke auf dem Rasen ausbreitete und den Picknickkorb darauf stellte. »Sina und ich haben dieses idyllische Plätzchen durch Zufall beim Spazierengehen entdeckt. Den meisten Leuten ist der Weg um den See herum zu weit, deshalb sind wir hier auch immer ganz allein.«
»Es ist wunderschön hier«, sagte Nicole fasziniert. Die Sonne glitzerte auf der Wasseroberfläche, und außer dem leisen Rauschen des Windes und dem Quaken einige Wildenten in der Nähe war kein Laut zu hören.
»Mal sehen, was uns Frau Wagner Gutes eingepackt hat«, sagte Thomas und öffnete den geflochteten Weidekorb. Nicole ließ sich auf der Decke nieder, und Sina setzte sich neben sie.
»Frau Wagner kümmert sich um mich, wenn Papa arbeitet«, erklärte die Kleine und flocht ihrer Puppe das zerrupfte Haar zu einem Zopf. »Papa hat immer wenig Zeit, aber ich weiß ja, daß er Geld verdienen muß«, fügte sie altklug hinzu.
Während sie Hähnchenkeulen, Frikadellen und Kartoffelsalat aßen, plapperte Sina munter drauflos. Sie hatte überhaupt keine Scheu vor Nicole, die doch eigentlich eine Fremde war.
»Hast du auch Kinder?« fragte das Mädchen plötzlich. Nicole warf Thomas einen hilfesuchenden Blick zu, und dieser sagte schnell: »Das wird sie dir ein anderes Mal erzählen. Sieh mal, da kommt Besuch!«
Tatsächlich watschelte eine der Wildenten zögernd auf die Decke zu. Ob man hier wohl etwas betteln konnte? schien sie sich zu fragen.
Sofort holte Sina ein Brötchen aus dem Korb und begann es in kleine Stückchen zu brechen. Ni-cole atmete auf; das war noch mal gutgegangen! Aber was war, wenn Sina wieder diese Frage stellte? Konnte sie das kleine Mädchen einfach anlügen? Die Wahrheit zu sagen, kam nicht in Frage. Nicole schämte sich fürchterlich, ihr Kind verstoßen zu haben. Wir würde Sina darauf reagieren?
Obwohl Nicole den herrlichen Tag am See genoß, beschlich sie wieder das beklommene Gefühl der Einsamkeit. Die Vertrautheit zwischen Vater und Tochter machte ihr deutlich, was sie getan hatte. Zum Glück schaffte Sina es immer wieder, Nicoles düstere Gedanken zu vertreiben. Mal erzählte sie vom Kindergarten und von der neuen Erzieherin, die so streng war, dann wieder von ihren Erlebnissen mit ihrem Vater.
So verging der Tag wie im Flug. Nachmittags verzog sich die Sonne, und es wurde kühl. Nicole war froh, ihren Pullover mitgenommen zu haben und zog auch Sina ihre Strickjacke an.
»Was haltet ihr beiden Hübschen davon, wenn wir noch irgendwo in eine Konditorei gehen?« fragte Thomas, nachdem Korb und Decke im Auto verstaut waren.
»Au ja!« jauchzte Sina und sprang hoch. »Ich möchte eine heiße Schokolade und sooo ein großes Stück Erdbeerkuchen mit Sahne!«
Die beiden Erwachsenen lachten. Wie sich doch ein Kind über die Kleinigkeit eines Konditoreibesuches freuen konnte!
Sina und ihr Vater kannten sich in der Gegend gut aus, und wenig später saßen sie in einer Konditorei, die ein gutes Geschäft mit hungrigen und kaffeedurstigen Sonntagsgästen machte.
»Wir kommen öfter mal nach einem Ausflug am See hierher«, bemerkte Thomas schmunzelnd, als er von der Bedienung freudig begrüßt wurde. »Kommen Sie, da hinten ist ein Tisch frei.«
»Warum sagt ihr eigentlich nicht du zueinander, wenn ihr euch so gut kennt«, fragte Sina, als sie mit großem Appetit ihren Kuchen aß. Thomas und Nicole sahen sich verlegen an, und schließlich meinte er: »Du hast recht, Sina. Es ist wirklich albern, daß wir uns siezen. Was meinen Sie, Nicole?«
»Ja, das ist tatsächlich albern«, erwiderte diese und errötete mal wieder. »Was werden die Kolleginnen und erst Dr. Kleiber dazu sagen?« gab diese zu bedenken. »Ich möchte nicht, daß alle über uns reden.«
Thomas machte eine wegwerfende Handbewegung und wischte Sina dann mit einer Serviette verschmierte Sahne von der Wange. »Na, sollen sie doch reden. Außerdem ist Dr. Kleiber mein Geschäfts-partner und nicht mein Arbeitgeber. Also, was ist?«
Ein wenig zierte sich Nicole noch, doch dann nickte sie begeistert. Thomas’ Augen leuchteten vor Freude, und er raunte Nicole zu: »Ob es hier auch Sekt zum Anstoßen gibt?«
Nicole lachte. »Wohl kaum – außerdem mußt du noch fahren.«
»Stimmt, dann fahren wir auf dem Rückweg noch bei einer geöffneten Tankstelle vorbei. Wenn du nichts dagegen hast, können wir dann bei mir zu Hause die Flasche köpfen.«
»Toll, dann kann ich dir ja mein Puppenhaus zeigen!« freute sich Sina. Auch Nicole freute sich, das Heim der beiden liebsten Menschen, die sie hatte, kennenzulernen…
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