»Wieso?« Nicoles Augen weiteten sich vor Entsetzen.
»Weil Sie bereits in der fünfzehnten Woche schwanger sind, da ist ein Abbruch nicht nur verboten, sondern auch noch gefährlich. Ich würde Ihnen aus diesem Grunde auch nicht raten, ins Ausland zu einer dieser fragwürdigen Kliniken zu fahren.«
»Aber… ich kann dieses Kind unmöglich bekommen!« Fast hätte sie hinzugesetzt, daß sie dann den Mann ihrer Träume für immer verlieren würde.
Dr. Lorenz griff zu einem Notizblock und schrieb etwas darauf. Dann gab er Nicole den Zettel mit den Worte: »Ich habe Ihnen hier die Adresse einer Beratungsstelle für werdende Mütter aufgeschrieben. Vielleicht gibt es eine Möglichkeit, daß man Ihnen dort hilft. Allerdings wird man dies nicht bezüglich eines Abbruchs tun.«
Resigniert nahm Nicole den Zettel an sich und verabschiedete sich schnell. Gegenüber der Parxis war ein kleines Café, in das Nicole nun mit schweren Schritten ging und sich an einen Tisch direkt am Fenster setzte. Sie starrte auf den belebten Gehweg vor dem Café und bemerkte kaum die freundliche Serviererin, die nach ihren Wünsche fragte. Nicole bestellte ein Kännchen Tee. Es war egal, was sie trank – ihr schmeckte im Moment sowieso nichts.
Draußen ging eine junge Frau mit Kinderwagen vorbei, und an der Hand hielt sie ein kleines Mädchen von etwa zwei Jahren. Man sah, daß die Frau in wenigen Wochen wieder Mutter werden würde.
Schaudernd wandte sich Nicole ab. Nein, so wollte sie nicht leben! Nie eine freie Minute haben, nur für die Kinder leben – und ständig war das Geld knapp. Nicole stellte sich ihre Zukunft ein wenig anders
vor.
Sie nahm den Zettel von Dr. Lorenz und las die Anschrift darauf. Die Beratungsstelle lag nur ungefähr zehn Gehminuten entfernt, und Nicole entschloß sich, noch an diesem Tag dorthin zu gehen.
Der Weg führte Nicole vorbei an schicken Modegeschäften, an deren Schaufenster sie sich sonst fast die Nase plattdrückte. An diesem Tag hatte sie jedoch keinen Sinn für die neuesten Kreationen aus Paris oder Mailand…
»Beratungsstelle für werdende Mütter« stand mit großen Buchstaben auf dem weißen Blechschild an dem gepflegten Backsteinhaus. Zögernd stieg Nicole die Stufen zu der braunen Eingangstür empor. Sie streckte die Hand nach dem Türgriff aus und hielt inne. Sollte sie sich wirklich wildfremden Menschen anvertrauen? Doch was blieb ihr anderes übrig – sie hatte keine engen Freunde, ihre Eltern lebten nicht mehr – und von Rainer brauchte man gar nicht reden.
Zehn Minuten später saß Nicole einer sympathischen Frau mittleren Alters gegenüber. Margret Berkefeld hörte aufmerksam zu, ohne Nicole auch nur ein einziges Mal zu unterbrechen.
Als diese schließlich ihre ganze Geschichte erzählt hatte, lächelte Frau Berkefeld freundlich. Es war kein Vorwurf in ihrem Blick, nur Verständnis.
»Glauben Sie bloß nicht, daß Sie ein Einzelfall sind«, sagte sie. »Täglich kommen verzweifelte junge Frauen zu uns, die kein Kind bekommen möchten, ihr Baby aber auch nicht abtreiben lassen wollen.«
»Und… was kann man in solch einem Fall tun?« Nicoles Stimme war wieder etwas fester geworden, die Gegenwart der anderen war beruhigend. Endlich war Nicole nicht mehr mit ihrem Problem allein; ab jetzt würden sich auch andere mit ihrem Schicksal befassen.
»Tja, Frau Kamrath, in Ihrem Fall kann man nur eines tun: Sie bekommen das Kind und geben es gleich nach der Geburt zur Adoption frei. Es gibt sehr viele Ehepaare, die sich nichts sehnlicher wünschen als ein Kind.«
»Ich soll das Kind zur Welt bringen?« rief Nicole entsetzt aus. »Aber das geht doch nicht. Meine Arbeitskolleginnen würden etwas bemerken – und vielleicht verliere ich dadurch meine Stellung!«
Frau Berkefeld hob die Hände. »Jetzt beruhigen Sie sich. Wegen einer Schwangerschaft darf hierzulande keiner Frau gekündigt werden, das ist gesetzlich geregelt. Natürlich müssen Sie Ihrem Chef von der Schwangerschaft erzählen, das ist Ihre Pflicht; aber wenn Sie ihm auch gleich sagen, daß Sie das Kind nach der Geburt nicht behalten möchten, werden Sie danach nicht Ihre Arbeit verlieren.«
Nicole zögerte. Der Gedanke, dieses Kind austragen zu müssen, behagte ihr ganz und gar nicht. Doch sie sah ein, daß es keine andere Möglichkeit gab. Frau Berkefeld ließ Nicole Zeit, mit der neuen Situation fertig zu werden.
»Es gibt allerdings auch viele werdende Mütter, sie sich anfangs für eine Adoption entschieden haben – und wenn das Baby erst einmal da ist, geben sie es nicht mehr her. In diesem Fall geht natürlich das Recht der leiblichen Mutter vor.«
»Das wird bei mir ganz bestimmt nicht geschehen!« rief Nicole hastig aus. Frau Berkefeld lächelte nur. Sie kannte diese empörten Äußerungen, wußte aber auch, daß sich jede zweite Frau meist noch während der Schwangerschaft dafür entschied, ihr Kind doch nicht wegzugeben.
»Gehen Sie jetzt erst einmal nach Hause und denken in Ruhe über meine Worte nach«, sagte Margret Berkefeld und erhob sich. »Sie werden sehen, die Schwangerschaft geht schneller herum, als Sie glauben.«
Auch Nicole hatte sich erhoben. »Haben Sie Kinder?« fragte sie fast schüchtern.
»Ja, zwei. Einen Jungen und ein Mädchen, die ich beide alleine großgezogen habe. Mein Mann ist leider früh verstorben, aber es ging alles gut. Natürlich gab es da Probleme, die nicht vorhanden sind, wenn ein Vater und Ernährer da ist. Heute studieren Michael und Claudia, und ich bin froh, daß ich sie bekommen habe.«
*
Mühsam wälzte sich Nicole aus dem tiefen Sessel. Der Bauch störte jetzt schon ziemlich, und dabei waren es noch fast zwei Monate bis zur Entbindung. Was Margret Berkefeld gehofft hatte, war bei Nicole nicht eingetreten. Sie empfand noch immer nichts für das Kind.
Dr. Kleiber und die Kolleginnen aus der Kanzlei hatten die Neuigkeit erstaunlich gelassen aufgenommen, obwohl sich Nicole nicht sicher war, daß die anderen Frauen über sie tuschelten, wenn sie nicht anwesend war. Im Grunde genommen waren ihr die Ansichten der anderen egal. Für Nicole war nur wichtig, daß die Schwangerschaft bald vorüber war und sie ihre Stelle als Chefsekretärin antreten konnte. Auch nach Rainer sehnte sich Ni-cole, wollte ihn so schnell wie möglich zurückgewinnen.
Sie stand nach wie vor mit Frau Berkefeld in Verbindung, die eng mit dem Jugendamt zusammenarbeitete. Bereits zwei Monate zuvor waren Adoptiveltern für Nicoles Baby gefunden worden, die schon sehnsüchtig auf das Kind warteten. Es handelte sich um ein Ehepaar Mitte Dreißig; der Mann war selb-ständiger Kaufmann und die Frau Modedesignerin mit eigenem Atelier im Haus. Mehr wurde Nicole nicht erzählt, und mehr wollte sie auch gar nicht wissen. Natürlich war es ihr nicht egal, was mit ihrem Kind passierte; doch es interessierte sie noch nicht einmal, in welcher Stadt die zukünftigen Adoptiveltern lebten…
*
Ungefähr zehn Tage vor dem errechneten Geburtstermin erwachte Nicole eines Nachts mit fürchterlichen Kreuzschmerzen. Im ersten Moment erschrak sie. Als sich die Schmerzen jedoch in regelmäßigen Abständen wiederholten, wußte sie, daß dies die Wehen sein mußten!
Das Krankenhausköfferchen war seit Wochen gepackt und alle wichtigen Papiere lagen bereit. Mit zitternden Fingern wählte Nicole die Nummer von Margret Berkefeld, die ihr versprochen hatte, bei der Geburt dabeizusein.
»Setzen Sie sich entspannt hin, und atmen Sie ganz ruhig. Ich bin in ein paar Minuten bei Ihnen!« sagte Frau Berkefeld, die sofort hellwach war, als Nicole anrief.
»Es tut so weh«, stöhnte Nicole und hielt sich den Bauch. »Was soll ich denn bloß tun?«
»Gar nichts. Die Schmerzen sind ganz normal.«
Tatsächlich war Frau Berkefeld nur wenigen Minuten später bei Nicole, stützte sie sorgfältig auf dem Weg zum Auto und sprach beruhigend auf sie ein. Die Wehen kamen jetzt stoßweise, so daß Nicole dachte, sie müsse sterben!
Dann ging alles so schnell, daß Nicole später Mühe hatte, zu rekonstruieren, was alles geschehen war. Das Entbindungszimmer,