Rolfers sah, während die junge Frau so plauderte, auf den blaßroten Mund, dessen feine Linien an den Winkeln ein wenig nach oben gebogen waren, und der unter dem weißen Schleier eigentümlich reizvoll blühte. Es fiel ihm ein, daß er diesen Mund einmal in der Nachtlaune eines Künstlerfestes sehr lange und innig geküßt hatte. Er dachte daran, wie man an Dinge von gestern denkt. Er hatte die junge Dame im Auftrag ihrer Eltern gemalt und guten Erfolg mit dem Porträt gehabt. Es hatte ihm die goldene Medaille eingetragen, und wahrscheinlich wäre ihm auch das reiche Mädchen nicht unzugänglich gewesen, doch nach dem Kuß auf den blühenden blaßroten Mund packte ihn plötzlich ein Grauen vor all dieser wohlarrangierten Bürgerlichkeit, und er hatte sich jäh zurückgezogen. Leicht bewegte Anmut, die war ja nun hier und bot ihm aufs freundlichste ihre Gaben. Wie völlig belanglos schien ihm auch dies und jede Hoffnung, die sich daran knüpfen mochte. – Widerwärtige Vorstellung: des Vaterlandes Not und Triumph zu benützen, um als Krüppel über einen gesunden, wohlbestallten Professor und Gatten obzusiegen ...
Der jungen Frau wurde mit einem höflichen Lächeln ablehnend gedankt für all ihre gütigen Pläne. Als trotzdem am folgenden Tage eine Fruchtschale und Rosen von wundervollster Üppigkeit eintrafen, ließ Rolfers Trauben und Blumen unter die Kameraden verteilen. Sein Gesicht wurde nicht einen Augenblick heller. Der Vorgang bestärkte ihn nur in dem Wunsche nach einem abgelegenen Zimmer, wo er für solche Besuche unauffindbar blieb. Die Pflegerinnen meinten seitdem, er habe doch wirklich einen unleidlichen Charakter. Rolfers beobachtete die steigende Kühle ihm gegenüber mit Humor.
Ihm selbst war ruhiger und gelassener, ja zuweilen ganz menschenfreundlich zumute, seitdem er mit sich fertig geworden war und seine Persönlichkeit aus dem Wirbel des Geschehens zurückgenommen hatte, um dieser Zusammensetzung, die sich Franz Rolfers nannte und die nur durch Hand und Arm für die Menschheit Wert gehabt, aus selbstherrlichem Willen ein Ziel zu setzen. Er brauchte sich wahrhaftig nun noch weniger als je zuvor darum zu kümmern, wie er auf seine Umgebung wirken mochte.
»– – Fräulein Niemann ist krank und schickt mich an ihrer Stelle, Sie sollen doch Ihr gewohntes Labsal nicht vermissen,« hörte Rolfers eine weibliche Stimme mehrmals wiederholen. Den Klang kannte er – oder täuschte er sich? Wo mochte es gewesen sein, daß er die Stimme gehört hatte? Sie war weich, ruhig, angenehm ... Erinnerungen kamen ihm – das war schon die Zeit von vorgestern, als er diese Stimme heller und fröhlicher als heut hatte neben sich schwatzen hören, und leise Liebesworte plaudern ... Er beobachtete hinter seiner Zeitung verborgen die mittelgroße, einfach gekleidete Frau, die von Bett zu Bett ging, mit den Schüsselchen, die sonst von dem alten Fräulein verteilt wurden.
– – Sie war es wirklich, die kleine Martha, die er einmal liebgehabt ... wie hübsch sie damals war mit dem blonden krausen Haar und den hellen Augen – lieber Gott – nun sah sie aus wie irgend jemand ... farblos – das war wohl heut die Formel für sie ...
Er fühlte nicht das mindeste Bedürfnis nach einer neuen Erkennungsszene – aber im Grunde war es ja vollkommen gleichgültig, und er konnte auch ein paar freundliche Worte mit ihr wechseln, wenn es einmal nicht zu umgehen war.
Die Frau näherte sich seinem Lager und sagte ein wenig verlegen: »Das tut mir nun leid – für Sie habe ich nichts mehr.«
»Der Herr liebt sowieso keine süßen Speisen!« bemerkte bissig eine junge Pflegerin, die vorüberlief.
Rolfers legte die Zeitung beiseite. »Die Schwester hat recht – machen Sie sich also keine Sorge,« sagte er höflich und hielt die Frau, die an seinem Bette stand, im Banne seiner ernsten, etwas strengen Augen. »Wollen Sie mir sagen, was unsrer Lazarettmutter fehlt?«
»Es ist nichts Ernstes – nur eine Erkältung,« antwortete die Frau. Ein Erröten stieg ihr vom Hals hinauf, lief über Wangen und Stirn. Ihre Augen bekamen, während sie Rolfers anschauten, einen hilflosen Blick, der zur Seite irrte, sich wieder auf ihn heftete und aufs neue zu flüchten versuchte. Tränen quollen empor, verhüllten die hoffnungslose Verwirrung gleichsam wie mit einem barmherzigen Schleier, bis sie langsam über die Wangen niedertropften.
»– Ja, Martha,« sagte der Mann sanft, »so steht es nun mit mir.«
Sie nahm hastig ihr Tuch und verhüllte ihr Gesicht.
»Komm, setze dich, es ist nicht gerade nötig, daß die Menschen auf uns merken. Ich bin ja nur einer von den vielen. Komm – Es ist lieb, daß das Wiedersehen dich so mitnimmt. Bei euch Frauen ist es wohl nicht anders ...«
Martha steckte ihr Tuch ein und setzte sich vorsichtig auf den Stuhl, den sie ein wenig von seinem Bette fortrückte. Sie blickte ihn mit ihren Augen, die etwas von klarem Wasser hatten und deren Ränder nun leicht gerötet waren, aufmerksam an. »Hast du viel Schmerzen gehabt?« fragte sie leise, und in ihrem Gesicht zuckte noch die Bewegung, die sie bei diesem unvermuteten Wiedersehen befallen hatte.
‘... Sie ist alt geworden,’ dachte er. ‘Merkwürdig, wie schnell das bei blonden Frauen geht. Wie die Züge sich verändern, alle festen Formen verlieren.’ – – »Ja, Schmerzen habe ich ordentlich gehabt,« sagte er laut. »Aber das ist ja gleichgültig. Das Schlimmste ist überstanden. – – Wie lebst du, Martha?«
»Wie immer – ich bin bei einem Rechtsanwalt angestellt und habe mein Brot. Wird der Chef eingezogen, weiß ich freilich nicht, wie es gehen soll ... Aber ich werde wieder etwas finden, mir ist nicht bange,« fügte sie eilig hinzu.
»Und der Junge?«
»Ein großer Kerl – schon in Obertertia.«
»Ich habe mich gefreut, daß du ihn bei dir behalten hast. Hoffentlich wächst er dir nicht zu sehr über den Kopf, quält dich nicht ...«
»O nein,« entgegnete sie lebhaft, wurde wieder rot, und ihre Augen begannen zu glänzen. »Wir verstehen uns gut. Es ist ein lieber Junge und begabt! Hat für alles Interesse. Das sagen auch die Lehrer.« Kaum hörbar flüsterte sie: »Ich bin dir dankbar, daß ich ihn aufs Gymnasium schicken kann. Von meinem Verdienst ginge es nicht!«
»Das ist doch nur selbstverständlich!« antwortete Rolfers ablehnend, seine Brauen zogen sich zusammen.
Martha Lebus erhob sich sofort. »Ich muß nun gehen,« sagte sie scheu, und der verwirrte Blick machte ihr Gesicht unbedeutend und mitleiderweckend. »Darf ich dich bald einmal wieder besuchen?«
Rolfers lächelte und hielt ihr seine linke Hand entgegen, die sehr bleich und durchsichtig geworden war, wie die Hand einer leidenden Frau.
»Gewiß, Martha, das ist hübsch. Komm nur!«
Sie hatte seine Hand gefaßt, hielt sie vorsichtig und wagte nicht, sie zu drücken.
»Lasse dir dann von der Schwester das Zimmer zeigen, wo ich liegen werde. Du findest mich allein, und wir können freier miteinander plaudern. Lebe wohl, Martha.«
Mit gesenktem Kopf, in gesammelter Haltung ging Martha durch den Saal. An der Tür blickte sie noch einmal zurück und nickte Rolfers zu. Er grüßte mit der linken Hand.
Die Klingel tönte, die Besucher, männliche und weibliche, entfernten sich nach und nach. Kaffeebecher und Semmeln wurden verteilt, dann kam das Glas mit den Fieberthermometern. Es wurde Temperatur gemessen. Der Krankensaal kehrte in seine Abgeschlossenheit und zur alltäglichen Ordnung zurück. Die meisten der Verwundeten waren müde von den ungewohnten Familienfreuden und schlummerten oder ruhten mit geschlossenen Augen. So lag auch Rolfers.
‘... Es scheint, daß ich noch einmal einen Überblick über mein ganzes Leben bekommen soll,’ dachte er. ‘Ob ich sie auf der Straße wiedererkannt hätte? Arme kleine Martha