Ein Patrouillengang des Nachts durch ein kleines Waldtal – der Leutnant, er und noch ein paar Kerls. Es hatte am Mittag des Tages eine Schießerei in dem Gelände stattgefunden, die Rothosen waren überwältigt, einige gefangengenommen, die andern hatten sich eilig zurückgezogen. Nun sollten sie auskundschaften, ob die Gegend restlos vom Feind gesäubert war. Man fand nichts Verdächtiges, kehrte, vorsichtig am Waldrand entlang schleichend, zurück. Der Offizier und die Mehrzahl der Leute waren schon ein Stück weit voran, als Rolfers seinen Nebenmann auf ein dunkles Etwas aufmerksam machte, das im tiefen Baumschatten neben ihrem Wege lag.
»Ein Toter oder Verwundeter,« flüsterte er seinem Nachbar zu.
»Ach was, schnell vorwärts,« murrte der. »Wir verlieren den Anschluß, und wer weiß, ob die Bande nicht noch im Dickicht hockt.«
Winselnde Wehelaute drangen aus dem Dunkel zu ihnen empor. Das Grausen fuhr Rolfers ins Herz, einen hilflosen Menschen hier liegen zu lassen in der finsteren Regennacht. Er hielt die Mütze vor und leuchtete mit der elektrischen Taschenlaterne dem Verwundeten ins Gesicht. Der hob sich mühsam; schwarze Augen stierten Rolfers an, eine hastige Bewegung – in demselben Moment krachte der Schuß.
Ein dumpfer Schlag durchfuhr Rolfers – er stürzte wie ein Stück Vieh quer über den Franzosen.
Als er erwachte, schien der Mond still durch die Bäume. Er bewegte den Kopf, blickte aus nächster Nähe in ein gelbes Totengesicht. Die Augen, deren Ausdruck voll rasenden Hasses sofort wieder vor sein Gedächtnis trat, lagen grau gebrochen unter nur halb geschlossenen Lidern, der Mund war wie von einem müden Ekel schiefgezogen. Ein knabenjunges, feines Antlitz, von erstem Bartflaum umrandet.
Rolfers suchte sich zu erheben – da packte ihn wütender Schmerz in Arm und Schulter und atemlose Angst ... War’s möglich, war’s nur zu denken, daß das Schlimmste getragen werden mußte?
Und er schlug wieder hin, von aller Kraft verlassen – auf den starren Körper des Knaben, der ihm das getan ... Die Nacht verging in halber Bewußtlosigkeit, in Durstqual und fieberisch gesteigerten Ängsten. Bei grauendem Morgenlicht fanden ihn zwei Sanitätssoldaten, die von den Kameraden ausgeschickt waren, ihn zu bergen.
Der Arm war in Fetzen und Splitter geschossen, von einem dieser heimtückisch im Innern des Körpers platzenden Geschosse.
Im Etappenlazarett wollte man ihn sofort amputieren.
Rolfers widersetzte sich so leidenschaftlich, daß der Stabsarzt begriff, um welchen Wert es sich hier handelte, und versuchte, durch zahllose mühselige Kleinoperationen die Knochensplitter einzeln zu entfernen. Der Mann litt standhaft, was gelitten werden mußte. Die wütenden Schmerzen heimlich zehrender Eiterungen, wilde Fieberzeiten, unterbrochen von dumpfem Morphiumschlaf. Ein Auf- und Abwogen von Hoffnung und Verzweiflung.
In seinen Phantasien verfolgte ihn ein immer wiederkehrendes Bild. Er sah mit peinvoller Deutlichkeit den schlanken jungen Franzosen, auf einem gefällten Baumstamm am Waldrand sitzend, in der lässigen Grazie, die Rolfers an den Pariser Jungen so oft bezaubert hatte, das holde Profil tief gesenkt, von weichen dunkeln Wimpern die bernsteingelbe Wange beschattet, ein lauernd grausames Lächeln um den roten Kindermund, wie er behutsam mit der Feile seines Taschenmessers arbeitete und schabte, den Stahlmantel des blanken Geschosses zwischen seinen Fingern zu spalten, damit es gerade die entsetzliche Wirkung üben sollte, von der in den Schützengräben mit wollüstigem Vergnügen geredet wurde.
Ein erregendes Verlangen plagte Rolfers, diese Gestalt, dieses Antlitz seines Verderbers zu zeichnen, das Gemisch von Überfeinerung und Verruchtheit eines todgeweihten Volkes – aber zugleich versank in ihm die Hoffnung tiefer und tiefer, daß er jemals wieder Stift und Pinsel führen könne.
Der letzte Versuch einer Rettung des Armes sollte durch die Behandlung eines großen Chirurgen in Berlin ausgeführt werden. Der Lazarettzug trug ihn mit vielen Leidensgefährten durchs deutsche Land.
Einmal, während sie, die Einfahrt in einen Bahnhof erwartend, in langsamer Fahrt dahinrollten, hatte Rolfers aus den sonderbaren Fieberzuständen heraus, in denen die Dinge urplötzlich so geheimnisvolle Bedeutungen annehmen können, einen Anblick, der ihn grenzenlos erschütterte.
Auf dem Bahndamm, hoch über dem unten fahrenden Zug, stand eine Frau. Als sie die Soldaten in den Fenstern sah, hob sie ihre beiden Arme steil gen Himmel, faltete die Hände und beugte sich tief, bis zur Erde nieder.
Nie hatte Rolfers eine Bewegung von so viel Größe und Inbrunst geschaut. Ihm war zumute, als grüße in der Gestalt dieser Bauersfrau Germania selbst ihre geopferten Söhne.
Und nun schien es ihm nicht schwer zu vergehen. Er fühlte sich mit einer dunkeln Lust tiefer und tiefer in die Schlünde des Todes hinabsinken, gegrüßt von jener göttlich-hohen, inbrünstig-demütigen Gebärde.
Noch am Abend nach der Ankunft in Berlin erfolgte die Amputation des brandig gewordenen Armes, trotzdem er lallend schrie, ihn sterben zu lassen.
Ohne irgendeine Basis, ohne irgendeine Notwendigkeit, irgendeinen Wunsch, seine künftigen Tage hinschleppen zu müssen ... Konnte das Pflicht sein? – Unsinn!
Er hatte seine Pflicht geleistet, rücksichtslos, instinktiv, wie alle Volksgenossen. – – Was nun noch kam, ging einzig ihn selbst, Franz Rolfers, an. Er war aus einem Stück der Allgemeinheit wieder zur Einzelperson geworden. Wollte er aus dem Lande der Lebendigen fortgehen, wer durfte ihn hindern? Sobald er das Lazarett als geheilt verlassen würde, mußte die Erlösungsstunde für ihn kommen. Dies hatte er in sich beschlossen und wartete. Mit starrer Geduld, schon entrückt den Interessen der Kameraden.
Barmherzig war er nie gewesen, und in Liebesdiensten für andere sich hinzugeben, diesen letzten Trost der Verstümmelten, das lag ihm nicht. Er haßte Heuchelei – auch gegen sich selbst.
Besuchsstunde. Neben den weißen Betten, auf den kleinen Glastischen Blumen oder Früchte: Trauben, Birnen, Äpfel auf Tellern, in braunen Tüten, weiße Kästchen mit Konfekt, Marmeladetöpfchen, Bücher und Zeitungen. Es staute sich das Mannigfachste. Vor den Betten standen Kinder, Frauen, Mütterchen, Freundinnen, Onkels und Tanten. Ein Lachen, Schwatzen, Scherzen erfüllte den hohen Saal. Verstohlen wischte hie und da eine Frauenhand niederstürzende Tränen von der Wange. Ein altes Jüngferchen, dürftig gekleidet, mit einem lieben Lächeln auf dem Runzelgesichtlein, verteilte Tellerchen mit süßem roten Gelee und weißer Schlagsahne. Jedesmal an sechs Krieger. Für mehr reichten ihre Mittel nicht, bekannte sie ganz offen. Aber sie kam täglich mit neuen Erzeugnissen ihrer Kochkunst. Die Soldaten nannten sie die Lazarettmutter und verstanden sich gut mit ihr. Bisweilen rauschten Damen mit kostbaren Pelzen und Reiherhüten durch das bescheidene Besuchsvolk, schritten von Bett zu Bett, verteilten Zigarren und huldvolle Worte. Die Schwestern mit den weißen Häubchen, den hellen Kleidern eilten hin und wieder, Ordnung zu halten, riefen ein mahnendes Wort, dem lachend gefolgt wurde.
Alles in allem hätte man zwischen zwei und vier Uhr nicht glauben können, welch eine Summe von Elend und Kummer in diesem weißen, von heiterem Stimmenwirrwarr erfüllten Saal ausgefochten wurde.
Rolfers tönten die schrillen Berliner Stimmen verletzend im Ohr. Seine Gefühle waren zwiespältig gemischt aus Anerkennung der herzlichen und opferwilligen Güte, die sich in den kurzen Stunden ringsumher bekundete, und aus einem peinlichen Schmerz über die Anmutlosigkeit der Gebärden, der Erscheinungsform dieser Liebe, über die Torheit der Gespräche, die Zudringlichkeit der Wohltäterinnen.
Die Besuchsstunde war jedesmal eine harte Prüfung seiner krankhaft gereizten Nerven. Anfangs hatte er mit einer gewissen Anteilnahme beobachtet. Jetzt lag er mit geschlossenen Augen oder hielt sich eine Zeitung vors Gesicht, um die Aufmerksamkeit möglichst wenig auf seine Person zu lenken. Vor wenigen Tagen war es geschehen, daß eine hübsche, sehr elegante junge Dame bei der Beschäftigung, riesige Stücke Napfkuchen zu verteilen, neben seinem Lager plötzlich gestutzt hatte und dann einen Schrei tat: »Meister –! Ja, Meister Rolfers, sind Sie’s oder sind Sie’s nicht? Und Berlin weiß nicht, daß Sie hier liegen? Aber das ist ja unerhört – aber da muß ich doch gleich ... Was kann ich nur für