»Das ist unsere Chance!« Zitternd vor Angst und Aufregung schlichen sich die beiden an das Haus heran. Die Küche des Hauses lag auf der dem Arbeitszimmer entgegengesetzten Seite. Sie pirschten sich an der Hauswand bis unter das Küchenfenster heran. Dann schlug Julia plötzlich die Hand vor den Mund, um einen Schreckensschrei zu unterdrücken. »Da ist noch jemand da.«
Undeutlich hörten sie den tiefen Baß des Mannes sagen: »Also die Tomaten vorher abbrühen. Mach ich.« Nach einer Pause fuhr er fort: »Das ist lieb von dir. Nein, ich komme schon allein zurecht. Nein, du brauchst nicht zu kommen… ja, wenn du kommst, freue ich mich natürlich…«
»Ich glaube, der telefoniert bloß«, wisperte Markus.
»Komm schnell! Ich weiß, wie wir es machen«, sagte Julia leise und zog ihren Bruder am Arm unter das Fenster des Arbeitszimmers. »Siehst du? Es ist nur angelehnt. Mach die Räuberleiter, schnell!«
Markus verschränkte die Finger, so daß Julia hinaufsteigen und das Fenster aufstoßen konnte. Sie zog sich am Fensterbrett hoch, schwang die Beine ins Zimmer und eilte zum Schreibtisch, angespannt auf jedes Geräusch lauschend. Die Mappe mit den Geheimpapieren lag auf der Schreibtischplatte. Julia schlug sie auf und betrachtete fasziniert die sehr festen, bräunlich verfärbten Papiere mit den seltsamen Chiffren. Sie nahm das unterste Papier aus der Mappe, rollte es sorgsam zusammen, steckte es unter ihren Pullover und eilte zum Fenster.
»Na endlich!« flüsterte ihr Bruder nervös. Julia ließ sich hinabfallen, und die beiden Kinder rannten an der Hecke, die den Garten seitlich begrenzte, so schnell sie konnten zurück zu ihrem Schlupfloch. Dort richtete Markus noch einmal das Fernglas auf das Haus. »Mann, das war knapp!« sagte er aufgeregt. »Jetzt geht er gerade wieder in sein Arbeitszimmer. Was hast du ihm weggenommen?«
Kaum waren sie am Hasenstall, holte Julia das geheimnisvolle Papier unter ihrem Pullover hervor. »Wenn eins weg ist, wird er es nicht gleich merken«, erklärte sie. »Wir wollen ihn schließlich in Sicherheit wiegen, bis wir genügend Beweise gegen ihn haben!«
Florentine lief neugierig zu ihnen, und ihre Geschwister erzählten ihr stolz von ihrer Heldentat. Dann rannten die drei zu ihrem Quartier auf dem Dachboden, um das Geheimpapier dort zu verstecken und zu versuchen, die seltsamen Zeichen zu dechiffrieren.
*
Christine und Sven fuhren früher wieder nach Hause, als sie eigentlich geplant hatten. Die Verstimmung des ersten Abends hatte ihnen das ganze Wochenende verdorben. Obwohl Christine sich große Mühe gegeben hatte, unbefangen und heiter zu erscheinen, war ihr die bittere Enttäuschung doch weiterhin anzumerken. Und auch Sven war verärgert. Daß Christine überhaupt so große Erwartungen in ihn setzte, war wie ein stummer Vorwurf. Und Vorwürfe – vor allem wenn er ahnte, daß sie nicht ganz unberechtigt waren – konnte Sven nun einmal auf den Tod nicht ausstehen.
»Nächste Woche habe ich sehr viel zu tun«, sagte er, als sie im Auto nach Hause fuhren. »Ich kann mich also nicht um deine Familie kümmern.« Es klang unfreundlicher, als er eigentlich gewollt hatte. Aber wer wußte, wozu es gut war? Dann hörte Christine vielleicht endlich auf, ihn als Familienmitglied zu sehen. Er brauchte seine Freiheit, er mußte mobil sein, sonst würde es mit seiner Karriere schon bald nicht mehr recht vorangehen. Und außerdem hatte er gar keine Lust, eine feste Bindung einzugehen. Sven warf einen Blick in den Rückspiegel und freute sich darüber, wie dicht das hellbraune Haar war, das ihm der Wind aus der glatten Stirn wehte. Mit dreißig Jahren war er doch wohl entschieden zu jung, um sich mit drei Kindern zu belasten!
Auch Christine grübelte stumm vor sich hin. Sie wußte, daß sich etwas verändert hatte, auch wenn sie und Sven gemeinsam nach Hause zurückkehrten. Sie dachte an die häßliche Brosche und fühlte, wie sich ihre Kehle fast schmerzhaft zusammenzog.
Als sie in die vertraute Straße einbogen, sahen sie schon von weitem einen älteren Herrn mit grauen Schläfen vor der Tür ihres Hauses stehen. Er hielt sich fast militärisch gerade und hatte einen altmodischen Lederkoffer, einen riesigen schwarzen Schirm und einen Spazierstock mit Elfenbeinknauf neben sich stehen. Als er das Motorengeräusch hörte, drehte er sich um und hob beide Arme zur Begrüßung. »Gott sei Dank! Ich dachte schon, ich müßte mir ein Hotel suchen. Wo sind denn die kleinen Racker?«
»Ist denn niemand im Haus?« fragte Christine, nachdem sie ihren Onkel Heinrich umarmt hatte. Sie sah an der Fassade hoch und lauschte. »Was ist das für ein sonderbares Geräusch?«
»Ja, das habe ich mich auch gefragt, liebes Nichtchen. Es klingt ein bißchen nach Sinatra, aber eben nur ein bißchen.«
Kopfschüttelnd schloß Christine die Tür auf. In der Diele war deutlicher zu hören, wie Bernadette sich auf ihre Sängerkarriere vorbereitete. Von den Kindern war keine Spur zu sehen. Sven trug seinen Koffer hinein, ging dann ohne ein weiteres Wort ins Wohnzimmer und vertiefte sich in eine Zeitung, die auf dem Tisch lag.
»Wer ist denn dieser unhöfliche Mensch?« erkundigte sich Onkel Heinrich gereizt. »Er hat mich nicht einmal begrüßt. Sagtest du nicht, er sei Kaufmann? Lernt man da nicht, verbindlich und höflich zu sein?«
»Er ist Werbefachmann«, verbesserte Christine seufzend und schlug kräftig auf den Gong, der sogar die Gesangsübungen aus dem oberen Stockwerk übertönte. Die drei Kinder kletterten eilig die Leiter vom Speicher hinab. Im nächsten Moment polterten sie die Treppe hinab und stürzten sich auf ihre Mutter. »Mami! Endlich bist du wieder da!«
Christine schloß die drei Kinder in die Arme. Eine warme Welle des Glücks durchströmte sie, als die kleinen Körper sich liebevoll an sie preßten. »Ja, ich bin wieder da. Und so schnell fahre ich auch nicht wieder weg!«
Während die Kinder begeistert ihren Großonkel begrüßten, ging Christine in die Küche und stellte fest, daß Bernadette anscheinend seit ihrer Abfahrt nicht mehr abgewaschen hatte. Aber immerhin hatte sie eingekauft. Christine suchte die Zutaten für eine Zucchini-Sauce zusammen, setzte Nudelwasser auf und kommandierte Julia und Markus in die Küche, um Tomaten zu schneiden. Sie wunderte sich über sich selbst. Eben noch hatte sie nur allein sein wollen mit ihrem Kummer, und jetzt war sie überglücklich, Julias wippenden Pferdeschwanz und Markus’ braunen Wuschelkopf über den Küchentisch gebeugt zu sehen.
Liebevoll legte sie den eifrig arbeitenden Kindern die Arme um die Schultern. »Ich bin sehr froh, daß ich wieder bei euch bin. Hat Fräulein Schuster gut für euch gesorgt?«
Julia und Markus nickten stumm. »Und habt ihr euch auch nicht gelangweilt?« Die beiden Kinder sahen sich an und fingen an zu kichern. »Nee, gelangweilt haben wir uns kein bißchen!«
*
In den nächsten Tagen hatte Christine sehr viel zu tun. Jeden zweiten Tag mußte sie zum Großhandel fahren, und oft stand sie noch zu später Stunde in der Küche, um Tiramisu, Mousse oder rote Grütze für ein Buffet herzustellen. Bernadette hatte trotzdem kaum Arbeit mit den Kindern. Sie kamen fast nur zum Essen herunter und hielten sich in der übrigen Zeit auf dem Speicher auf, wenn ihr Großonkel keine Ausflüge mit ihnen unternahm. Heinrich Zott war erst vor einem Jahr in den Ruhestand getreten. Die Kinder hingen an seinen Lippen, wenn er von seinen Erlebnissen bei der gerade überstandenen Reise durch die Mongolei berichtete, wobei er es mit der Wahrheit nicht immer ganz genau nahm.
»Wir sind tagelang geritten«, behauptete er zum Beispiel, »und abends haben wir Hammelfleisch gegessen, das wir unter unseren Sätteln weichgeritten hatten.«
»Wahnsinn«, sagte Markus begeistert. Bernadette schauderte. »Das haben Sie wirklich getan?«
Heinrich Zott schmunzelte nur.
»Du schwindelst ja, Onkel Heinrich«, sagte Julia tadelnd. »Ich will später auch soviel reisen wie du und sehen, wie es in Asien wirklich ist. Was muß ich dafür machen?«
»Nun, du kannst es zum Beispiel genauso anstellen wie ich und Konzertmanagerin werden«, schlug er vor.
»Was?