»Ich weiß«, sagte Alida gelassen. »Aber das heißt nicht, daß ich nicht häufig daran gedacht hätte. Es ist nur so, daß es mich sehr stört, wenn ich abhängig bin – da werde ich störrisch. Ich war von meinem Mann sehr abhängig, wissen Sie? Er hat mich zunächst geliebt und dann schlecht behandelt. Immer hatte er andere Frauen, er hat mich gedemütigt, wo er nur konnte. Damals habe ich mit dem Trinken angefangen. Als er gestorben ist, hätte ich eigentlich froh sein müssen, weil er mich nun nicht mehr quälen konnte – aber ich war nicht froh. Im Gegenteil, ich hätte alles darum gegeben, wenn er zurückgekehrt wäre – selbst um den Preis weiterer Demütigungen.«
»Das kann ich gar nicht glauben«, sagte Janine, zutiefst erschrocken über dieses Geständnis. »Sie machen, trotz Ihrer Alkoholabhängigkeit, so einen starken Eindruck, Frau Roth.«
»Ich war auch einmal stark«, sagte die andere, »und daran haben Sie mich erinnert. Auf einmal habe ich Lust bekommen, wieder stark zu werden und mit mir selbst ins reine zu kommen. Ich wollte nicht mehr leben, weil ich keinen Sinn mehr im Leben sah – es war ja nicht einmal mehr der Mann da, den ich geliebt habe und der nichts wollte, als mich zu erniedrigen.«
»Wie können Sie einen solchen Menschen geliebt haben?« fragte Janine fassungslos.
»Ja, wie?« Die andere zuckte mit den Schultern. »Wenn ich noch eine Weile, vielleicht mit Ihrer Hilfe, darüber nachdenke, dann komme ich möglicherweise zu dem Ergebnis, daß es keine Liebe war, sondern Abhängigkeit, Hörigkeit oder etwas Ähnliches.«
»Liebe war es nicht!« sagte Janine mit fester Stimme. »Liebe ist etwas ganz anderes!«
Alida sah sie an, und zum ersten Mal, seit Janine sie kannte, sah sie die andere richtig lächeln. Es war ein Lächeln, das eine verblüffende Veränderung bewirkte: Auf einmal wirkte die Frau nicht mehr müde und ausgebrannt, sondern man konnte sich durchaus vorstellen, daß sie das Steuer noch einmal herumreißen und ein völlig neues Leben beginnen würde.
»Kommen Sie zu mir, Kind!« sagte sie. »Ich muß Sie umarmen. Sie haben viel mehr für mich getan, als Sie wissen.«
*
Stefanie hatte ein Taxi genommen und sich ins Hotel fahren lassen – ihr Plan war, in dieser Nacht im King’s Palace zu bleiben. Frau Dr. Martensen hatte ihr beim Abschied noch einmal eingeschärft, daß es besser sei, nicht allein zu bleiben – und Stefanie hatte keine Lust, jemandem zur Last zu fallen. Außerdem wollte sie nicht bemuttert werden, sondern nur jemanden rufen können, falls sie wirklich Hilfe brauchen sollte.
Als sie langsam das Hotel betrat, flogen mehrere Köpfe wie elektrisiert in die Höhe, dann kam eine junge Rezeptionistin auch schon auf sie zugerannt. Es war mittlerweile ziemlich spät, und Stefanie rechnete nicht damit, noch mit ihrem Chef sprechen zu müssen, was ihr ganz lieb war.
»Frau Wagner! Wir haben uns solche Sorgen um Sie gemacht! Ist etwas passiert?«
Auch die anderen kamen nun näher. Stefanie sah in lauter erleichterte Gesichter.
»Ja, ich war mit einem Schock im Krankenhaus«, sagte sie. »Und weil ich unter Umständen Betreuung brauche, möchte ich heut nacht gerne hierbleiben.«
Jemand sagte: »Der Chef ist noch da – er ist völlig außer sich, Frau Wagner. Ihre Sekretärin hat die Krankenhäuser angerufen, weil wir dachten, Sie hätten einen Unfall gehabt…«
»Na ja, wenn man den Angriff eines Eisbären einen Unfall nennen will«, murmelte Stefanie.
»Eisbär?« fragte die junge Rezeptionistin verständnislos.
»Ich erzähle Ihnen die Geschichte morgen«, sagte Stefanie. »Jetzt möchte ich nur noch ins Bett.«
»Natürlich. Kommen Sie, wir suchen ein schönes Zimmer für Sie aus.«
Doch ganz so schnell, wie sie gehofft hatte, kam Stefanie nicht ins Bett, denn auf einmal stand Andreas Wingensiefen hinter ihr. Sie hatte mit allem gerechnet, aber nicht damit, daß er sie erleichtert in die Arme schließen würde wie ein Vater seine verloren geglaubte Tochter. »Gerade sagte mir Ihre Sekretärin, daß Sie in der Kurfürstenklinik waren – meine Güte, Frau Wagner, wir haben uns solche Sorgen um Sie gemacht!«
»Danke«, sagte sie verwirrt, als er sie wieder losließ. »Tut mir leid, daß ich mich nicht gemeldet habe, aber es ging mir wirklich ziemlich schlecht.«
»Ja, ich weiß«, sagte er und ließ offen, was er wußte und was nicht.
»Ich möchte heute nacht hier schlafen«, erklärte sie. »Die Ärzte waren der Ansicht, daß ich vielleicht Betreuung brauche. Ich würde mich im Hotel sicherer fühlen als zu Hause.«
»Selbstverständlich«, sagte er großzügig. »Kommen Sie, ich begleite Sie nach oben.«
Das tat er, schloß ihr fürsorglich das Zimmer auf und verabschiedete sich dann, noch immer überaus besorgt. Als Stefanie allein war, schüttelte sie lächelnd den Kopf. Frau Dr. Martensen hatte recht, dachte sie. Meine Aktien beim Chef sind eindeutig gestiegen – und da werde ich nutzen, um ihm die Entlassungen, die er plant, endgültig auszureden. Bessere Karten als jetzt werde ich wahrscheinlich nie haben.
*
Marc hatte entsetzliche Schmerzen, als er in der Nacht aufwachte, aber sofort kam jemand und gab ihm ein Medikament, das den Schmerz dämpfte und dafür sorgte, daß er bald wieder einschlief. Er träumte wirr von Eisbären mit grünen Augen und rotem Fell, und immer wieder wachte er schweißgebadet auf. Doch jedes Mal war jemand zur Stelle, gab ihm etwas zu trinken, tupfte seine Stirn ab, sprach ein paar beruhigende Worte – und er sank erneut in Schlaf.
In den frühen Morgenstunden schienen die Schmerzen nachzulassen, und er fühlte sich ein wenig besser. Sein Schlaf wurde tiefer. Als er schließlich richtig wach wurde, sah er direkt in zwei grüne Augen, die ihn aufmerksam und voller Sorge betrachteten. Er brauchte einige Sekunden, bis er begriff, daß es wirklich Janine Gerold war, die neben seinem Bett saß. »Sie?« fragte er leise.
Sie nickte. »Ich hatte Angst um Sie«, sagte sie. »Ich konnte kaum schlafen in der vergangenen Nacht, deshalb dachte ich, dann kann ich genausogut hierher kommen und sehen, wie es Ihnen geht. Haben Sie große Schmerzen?«
»Es geht«, sagte er. »Wenn… wenn Sie hier sind, merke ich… nichts mehr davon.«
Ihr Lächeln war so strahlend, daß er den Blick kaum abwenden konnte. Vergessen waren seine Vorsätze, sich hier in Berlin nicht in eine Kollegin zu verlieben. Was für ein dummer Vorsatz war das überhaupt gewesen? Gegen die Liebe war man doch sowieso machtlos – wie hatte er das nur vergessen können?
»Sie… hatten Angst um mich?«
Janine nickte. »Ja, große.«
»Warum?« Sein Blick ließ sie nicht los.
Ihr Lächeln war weich und zärtlich, als sie mit einer Gegenfrage antwortete: »Wissen Sie das nicht? Frau Roth hat es übrigens sofort gemerkt.«
Er konnte ihr nicht so schnell folgen. »Frau… Roth?«
Janine nickte. »Als sie uns beide das erste Mal zusammen gesehen hatte, hat sie mich gefragt, ob Sie wüßten, daß ich… daß ich in Sie verliebt bin.«
»Das wußte ich… leider nicht«, antwortete er.
»Aber jetzt wissen Sie es!« Wieder strahlte sie ihn an. »Sie hat noch etwas gesagt – später.«
»Und was?«
»Daß Sie auch in mich verliebt sind!«
»Kluge Frau, die Frau Roth«, murmelte er. »So viel Scharfblick hätte ich ihr gar nicht zugetraut.«
Sie beugte sich zu ihm, und ihre Lippen streiften, sehr zart, seine Wangen und dann seinen Mund. »Mit Frisch-Operierten muß man vorsichtig sein«, flüsterte sie. »Sie vertragen nur zarte Küsse.«
»Das stimmt«, erwiderte er sehnsüchtig, »aber dieser Zustand hält nicht lange an, glaube ich.«
Janine