Die wichtigsten Werke von Jodocus Temme. Jodocus Temme. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jodocus Temme
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788027238149
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sonst nichts, als was Dir zukommt. Du kannst es Deinem Nachfolger auf der nächsten Station sagen, und der kann es weiter sagen, so weit ich fahre.«

      Der Postillion hieb auf seine Pferde, und Pferde und Wagen flogen dahin, dass man meinte, der Wagen oder die Straßen Düsseldorfs müssten einbrechen. Aber der Reisewagen des Domherrn war gut, und auch die Straßen Düsseldorfs sind es.

      Um zehn Uhr abends war der Domherr in Wesel.

      »Frische Pferde, nach Münster hin, in einer Viertelstunde«, bestellte er.

      »Wo wohnt hier die Kriegsrätin Fahrner?« fragte er dann.

      Man nannte ihm eine Straße.

      »Weit von hier?«

      »Fünf Minuten.«

      »Führen Sie mich hin!«

      Er wurde hingeführt zu einem kleinen alten Hause in einer engen Nebengasse.

      Das Haus war verschlossen; die Bewohner lagen schon im Schlafe, wenigstens meist; er musste eine Klingel ziehen, dann lange warten.

      »Wie kann man so früh schlafen gehen?« schalt er. »Und gar am Rhein und in einer so schönen Sommernacht? Aber was ist hier der Rhein und die Sommernacht? Gott erbarme sich über all den Jammer, die Schmerzen, das Blut, das Elend, die Verzweiflung, die diese Nacht begräbt!«

      Die Tür wurde geöffnet.

      »Wer ist da?« fragte eine verschlafene Magd.

      »Wohnt hier die Kriegsrätin Fahrner?«

      »Ja.«

      »Zu Hause?«

      »Ja, aber zu Bett.«

      »Dienen Sie bei ihr?«

      »Ja.«

      »Wecken Sie sie.«

      »Sie wollen sie sprechen?«

      »Warum würde ich sie sonst wecken lassen?«

      »Ihr Name?«

      »Ein Fremder.«

      Die Magd ging kopfschüttelnd in das Haus zurück und ließ die Tür offen stehen.

      Der Domherr folgte ihr eine Treppe hinauf.

      Oben musste er wieder warten.

      Er schalt nicht wieder.

      »Die arme Frau!« sagte er. »Vielleicht hat sie sei langer Zeit zum ersten Male einen ruhigen Schlaf. Ich stehle ihn ihr für lange Zeit.«

      Die Magd kam zurück.

      »Treten Sie hier ein. Die Frau Kriegsrätin wird sogleich kommen.«

      Sie führte ihn in ein kleines Stübchen.

      Es waren wenige, alte und veraltete Möbel darin, aber alles war sauber und ordentlich. Es war so recht ein kleines bürgerliches Zimmer einer kleinen Beamtenfamilie, vielleicht einer Beamtenwitwe.

      Kriegsrat war damals in Preußen ein Titel für Sekretäre und andere Subalternbeamte der Militärbehörden.

      Eine ältliche Frau erschien, gedrückt, etwas leidend.

      »Frau Kriegsrätin Fahrner?« fragte der Domherr.

      »Mein Name, mein Herr. Und wen habe ich die Ehre…?«

      »Mein Name tut nichts zur Sache, wenigstens vorläufig nicht. Madame. Sie sind Witwe?«

      »Schon seit länger als Jahresfrist.«

      »Sie haben eine Tochter? Agathe heißt sie.«

      Die Frau sah ihn erschrocken an.

      »Mein einziges Kind!« sagte sie.

      »So! Ist sie bei Ihnen?«

      »Nein.«

      »Haben Sie Nachricht von ihr?«

      »Haben Sie welche, mein Herr?« fragte die Frau rasch, mit angehaltenem Atem.

      »Nein! Ich wollte mich eben bei Ihnen nach ihr erkundigen.«

      »O mein Gott!« rief schmerzlich die Witwe.

      »Erzählen Sie mir von ihr, Madame«, sagte der Domherr.

      Die Frau sah ihn zweifelhaft an.

      »Sie können es wagen, Madame«, sagte er. »Ich suche Ihre Tochter, um für sie zu sorgen, und mich dünkt, ich sehe nicht aus wie ein Spitzbube.«

      Die Frau sah ihn an.

      Der kleine Domherr hatte trotz seiner krausen Haare und blitzenden Augen Stolz und Adel und zugleich etwas Gutmütiges in seinem Wesen.

      Sie vertraute ihm.

      »Mein armes Kind ist schon seit langer Zeit verschwunden«, sagte sie.

      »Sie haben gar keine Nachricht, keine Spur von ihr?«

      »Nicht die geringste.«

      »Sie ist oder sie war verheiratet?«

      »An einen sehr braven Mann, den Regierungsrat Mahlberg. Sie lernte ihn in Breslau kennen, wo er Assessor und mein Mann Sekretär bei der Regierung war. Als er Regierungsrat wurde, heirateten sie sich.«

      »Wann war das?«

      »Vor jetzt drei Jahren, im Sommer 1812.«

      »Die beiden liebten sich?«

      »O mein Herr, ich kann Ihnen nicht sagen, wie sehr, und wie glücklich sie in ihrer Liebe waren.«

      »Und wie lange dauerte dieses Glück? Erzählen Sie weiter, Madame.«

      »Im Februar 1813 begann der Krieg mit den Franzosen. Der König erließ jenen Aufruf an alle waffenfähigen Männer Preußens. Mein Schwiegersohn Mahlberg war einer der ersten, die ihm folgten. Seine Frau blieb bei uns in Breslau zurück. Unsere Truppen siegten.

      Die Franzosen wurden über den Rhein gejagt. Der König erhielt seine Länder zurück, die ihm Napoleon entrissen hatte, auch seine westfälischen Provinzen. Die alten Behörden wurden darin wieder eingesetzt. Mein Mann kehrte hierher nach Wesel als Kriegsrat bei der Intendantur zurück. Mahlberg wurde zur Belohnung seines Mutes, den er im Felde bewiesen, mit Gehaltserhöhung bei der wieder eingesetzten Regierung zu Minden angestellt. Er erhielt nach der Schlacht bei Leipzig von seinem Regiment einen kurzen Urlaub, um seine neue Stelle zu übernehmen und zugleich seine Frau nach Minden zu bringen. Zu uns nach Wesel mochte er sie nicht führen, der Lazarettyphus herrschte hier; mein armer Mann wurde bald ein Opfer der verheerenden Krankheit. In Breslau, wo wir sehr eingezogen gelebt und wenige Menschen gekannt hatten, mochte er sie nicht allein zurücklassen. Meine Tochter war freilich auch in Minden nicht glücklich. Sie war getrennt von dem Manne, den sie liebte; sie musste bald die Nachricht von dem Tode ihres Vaters erhalten. Sie schrieb in der ersten Zeit oft an mich, später seltener. Auf einmal bekam ich gar keine Nachricht mehr von ihr. Es war sehr kurze Zeit vor Beendigung des Kriegs. Am 31. März vorigen Jahres waren unsere Truppen in Paris eingerückt. Der Krieg war damit zu Ende. Vierzehn Tage später war mein Schwiegersohn hier bei mir. Er fragte nach seiner Frau.

      Auch er hatte seit langer Zeit keine Nachricht von ihr gehabt, schon seit Weihnachten nicht mehr. Er hatte bald nach der Einnahme von Paris Urlaub genommen und war nach Minden gereist, hatte sie aber nicht mehr dort gefunden. Sie war seit längerer Zeit fort; sie war plötzlich abgereist; warum, wohin, wusste niemand. Sie war in der letzten Zeit sehr still und traurig gewesen und hatte fast keinen Menschen gesprochen. Mein Schwiegersohn hatte acht Tage lang nach ihr geforscht, gesucht in der Umgegend von Minden, bei allen Bekannten. Er fand sie nirgends, Niemand konnte ihm etwas von ihr sagen. Sie war und blieb spurlos verschwunden. Da kam er zu mir. Auch ich wusste nichts von ihr. Er hatte keine Ahnung, warum sie sich entfernt habe, wo sie sein möge; auch ich hatte keine. Ich hatte nicht einmal einen Anhalt, um mir Gedanken darüber machen zu können. Er sprach nicht darüber. Er musste zu seinem