Ich habe gerade das Physikum am Ende des zweiten Studienjahres bestanden. Das Ende meines Medizinstudiums ist also noch lange nicht in Sicht. Auf dem langen Weg bis zum dritten Staatsexamen sind jetzt mehrere Praktika im Krankenhaus vorgesehen. So verbringe ich heute meine dritte Woche in der Narkoseabteilung eines großen Stadtkrankenhauses in Süddeutschland. Nachdem ich zwei Wochen ahnungs- und hilflos im OP neben dem Narkosegerät stand, ist nun eine Woche Intensiv- und Notfallmedizin dran. Inklusive Rettungshubschrauber-Praktikum.
Nach nur sieben Minuten schweben wir über dem kleinen Dorf. Am gegenüberliegenden Dorfrand stehen wild winkende Menschen. Manfred, unser Pilot, landet in atemberaubendem Tempo auf einer sattgrünen Weide neben der Menschengruppe. Bei noch laufenden Rotoren steigen Notarzt Harry, Sani Olli und ich aus dem Hubschrauber aus. Nach wenigen Metern müssen wir über den Weidezaun klettern. Ein aufgeregter Mann nimmt uns in Empfang und läuft uns dann voran zum angrenzenden Fachwerkhaus.
„Unser Hausarzt Doktor Meier ist schon da. Meine Frau bekommt Zwillinge. Es ging plötzlich los. Eigentlich sollte die Geburt erst in gut drei Monaten sein!“
Ich kann mit dem schweren Notfall-Koffer Harry und Olli kaum folgen. Es geht ins Schlafzimmer der Familie. Der Hausarzt hält ein winziges, nacktes Bündel Mensch auf dem Arm und presst mit seinen bloßen Lippen Luft durch Nase und Mund in den kleinen Körper. Als er uns sieht, unterbricht er.
„Frau Schmidt ist in der 25. Schwangerschaftswoche mit Zwillingen. Vorhin hatte sie den Blasensprung und unmittelbar danach setzten sofort heftige Wehen ein. Es ging alles rasend schnell. Dieses Kind hier ist das Erstgeborene. Das zweite Kind hat sie vor kurzem geboren. Es liegt bei ihr. Die Kinder haben gute Herztöne!“
Der erfahrene Notarzt gibt erste Anweisungen.
„Olli! Manfred soll mit dem Hubschrauber sofort einen Kinder-Intensivmediziner aus der Kinderklinik holen.“
Der Sani lässt gleich alles stehen und liegen und rennt zum Heli zurück, um Manfred mit diesen Infos wieder in die Luft zu schicken.
Nun geht alles rasend schnell. Harry reißt den ersten Koffer auf, drückt mir den Kinderbeatmungsbeutel in die Hand, nimmt das Baby aus den Armen des Hausarztes und legt es sanft vor mir auf einen Sessel.
„Drück mit nur zwei Fingern 20-30 mal pro Minute Luft in das Kind. Und achte drauf, dass die Maske gut um Mund und Nase sitzt!“
Dann reicht er mir noch ein Päckchen mit Goldfolie.
„Wickel aber zuerst das Baby in die Wärmefolie ein!“
Mir zittern die Hände. Ich bin völlig überfordert. Hätte gerne zehn Arme, kann aber nicht mal mit zwei Armen irgendwas koordiniert erledigen. So kriege ich kaum die Packung mit der Folie auf. Letztlich öffne ich das Paket mit den Zähnen, entfalte das goldene Tuch und kremple es irgendwie um den kleinen nackten Menschen. Dann schnell die Beatmungsmaske auf sein blitzeblaues Gesicht und drücken, drücken, drücken.
Harry hat sich in der Zwischenzeit der Mutter und dem zweiten Winzling zugewendet. Das Kind hängt noch an der Nabelschnur. Zusammen mit dem Hausarzt wird das Baby in Sekunden abgenabelt. Und jetzt? Keine Goldfolie mehr da. Harry schickt den Vater der Zwillinge los, um Alufolie aus der Küche zu holen. Dann reißt er ein gutes Stück davon ab und wickelt darin das Kind ein, so dass nur noch der Kopf herausragt. Der Hausarzt kümmert sich im Weiteren um die Mutter.
Olli ist zurück. Hat die kleine Absaugpumpe in der Hand und reicht Harry den dazugehörigen Katheter. Vorsichtig schiebt er den dünnen Schlauch in Mund und Nase des zweiten Babys und saugt Schleim und Fruchtwasser aus den zarten Atemwegen.
Nichts. Keine Reaktion des Winzlings. Kein Husten. Kein Schreien. Harry legt das Baby auf das Bett, kniet sich vor es hin und beginnt sofort mit der Mund-zu-Nase-Beatmung. Unser Equipment ist nur für ein Kind ausgelegt.
Olli nimmt unser EKG und klebt dem Säugling, den ich beatme, die vier Elektroden auf die violette Brust. Piep. Piep. Piep. Im Affentempo rast das kleine Herz. EKG ab, hin zum zweiten Kind. Gleiches Vorgehen. Gleiches Ergebnis. Das Herz schlägt. Harry pustet mit seinem Mund, ich drücke auf den Beutel.
Der Vater läuft wie ein Tiger im Käfig hin und her und her und hin. Ich spüre seine Sorgen, seine Ängste. Ich konzentriere mich auf „mein“ Baby. Maske dicht? Stimmt die Beatmungsfrequenz? Reagiert der kleine Mensch?
So geht es ewig. Harry lässt sich vom Hausarzt beim Beatmen ablösen und kommt zu mir.
„Gut so, wie du es machst! Kannste noch oder soll ich dich ablösen?“
Ich kann noch. Bin wie getrieben. Muss noch können. Bin völlig fokussiert auf den Beatmungsbeutel, die Maske auf dem kleinen Gesicht, die zwei drückenden Finger meiner rechten Hand.
Wir sind jetzt sicher schon fast 30 Minuten hier. Da höre ich endlich den Hubschrauber im Landeanflug. Minuten später kommt der angeforderte Kinderarzt in den Raum. Ein einziger Gedanke schießt mir durch den Kopf: Jetzt wird ja dann alles gut!
Harry gibt dem Pädiater eine kurze Übergabe, beatmet dann sofort weiter. Der Kinderarzt greift in seine Kitteltasche, holt ein Stethoskop raus und geht zunächst zum Neugeborenen im Ehebett. Er öffnet die Alufolie, horcht gründlich auf den kleinen Brustkorb, während Harry weiter mit dem Mund Luft in das Kind presst. Dann bedeutet er Harry aufzuhören, schüttelt den Kopf und schließt die Alufolie über dem Kopf des Kindes.
Dann kommt er zu mir. Mir springt mein Herz aus dem Hals. Ich drücke und drücke und drücke auf den Beutel. Dieser kleine Mensch wird doch aber noch zu retten sein! Der Kinderarzt öffnet die Goldfolie, hört auf die Lungen des Babys, legt dann seine Hand auf meine Schulter, schaut mich an, schüttelt abermals den Kopf und bedeckt den Kopf des Kindes mit einem Zipfel der Goldfolie.
Es ist still.
Scheiße. Medizin kann doch nicht alles.
PS: Ende der Achtzigerjahre lag das Überleben von frühgeborenen Zwillingen in der 25. Schwangerschaftswoche unter optimalen, d.h. Krankenhaus-Bedingungen (!), bei unter 50%. Das Problem in diesem Fall war die fehlende Lungenreife.
Normalerweise dauert eine Schwangerschaft vierzig Wochen.
Bibi und Tina beim Rodeo
Frühsommer 2013 in Süddeutschland.
Silas fährt wie Sau. Nach acht Minuten mit Blaulicht auf der Kreisstraße durch die wellige Landschaft erreichen wir den Reiterhof. Mir ist kotzübel von der Raserei.
Gegen den Brechreiz ankämpfend schnappe ich mir das EKG-Gerät und die Medikamententasche aus dem Kofferraum des rot-weißen Passats und laufe in Richtung der mir zuwinkenden weiblichen Teenies. Silas schnappt sich den Rest und kommt dann hinterher.
Es könnte hier traumhaft sein: Strahlende Sonne, blauer Himmel, sattgrüne Flora und beschaulich grasende Pferde auf den Koppeln ringsum. Könnte! Wenn da nicht die aufgeregten Mädchen um mich herum wären, die mit einem Mix aus Klageweib-Gejammer und Justin-Biber-Gekreische diese Idylle stören.
Aus tausend kleinen Mündern prasseln Informationen auf mich ein:
„Bibi weint!“
„Bibi hat sich wehgetan!“
„Bibi kann sich nicht mehr bewegen!“
„Bibi hat sich in die Hose gemacht!“
„Bibi ist von Omi gefallen!“
Ich verstehe nicht. Bibi? Omi?
Ich versuche, mir einen Weg durch die Mädchenschar zu bahnen. Nach 50 Metern stehe ich auf dem Reitplatz und finde schließlich Bibi im Sand liegend. Sie ist vielleicht elf Jahre alt. Ihr Gesicht ist voller Sand, durch den sich ihre Tränen einen kleinen Bachlauf gespült haben. Neben ihr kniet eine junge Frau und hält ihre Hand.
„Hallo, was ist denn passiert?“
„Guten Tag! Ich bin Tina, die Reitlehrerin. Wir hatten unsere Nachmittagsreitstunde.