Er spürte, wie ein einzelner Windhauch in sein Gesicht blies und ihm die Locken zerzauste.
Ich bin hier.
Die Stimme Davids hallte im Verstand des jungen Königs nach wie ein Fanfarenstoß und erfüllte auch die dunkelsten Nischen. In diesem Augenblick war Salomon vollständig ausgelöscht; alles, was von ihm verblieb, diente dem Empfang der Nachricht.
Was vier ist, ist fünf. Was fünf ist, ist eins. Blicke hinter das Sichtbare und das Spürbare, und du wirst deine Antwort erhalten.
Mit einem Mal wurde der Äther totenstill und Schweigen füllte Salomons Kopf. Langsam öffnete er seine Augen und sah zum Himmel auf. Eine einzelne Sternschnuppe schoss über die wolkenlose, indigoblaue Fläche und verschwand beinahe so schnell, wie sie erschienen war. Er spürte die Kühle der Erde unter seinen nackten Füßen und wurde sich deutlich seiner Pflichten dem oberen und dem unteren Himmel gegenüber bewusst. Er senkte den Blick und bemerkte ein glänzendes, rotes Objekt durch die Erde innerhalb des Blutkreises lugen. Als er den Schmutz abwischte, fand er einen aus Eisen geschmiedeten Ring mit vier Steinen, die innerhalb eines vollkommenen Kreises eingelassen waren. Er erkannte ihre Signifikanz: ein Rubin für das Feuer, ein Aquamarin für das Wasser, ein Tigerauge für die Erde, ein Diamant für den Wind.
Die vier Elemente. Das Sichtbare und das Spürbare.
Salomon drehte den Ring, sodass er ihn von allen Seiten betrachten konnte, und bemerkte ein winziges Scharnier. Er hob den edelsteinübersäten Deckel an und fand darunter einen goldenen Kreis, in welchen ein fünfzackiger Stern eingraviert war – das Symbol des Himmels und der Quintessenz aller Dinge: Das fünfte Element, das nur die wenigen Auserwählten sehen konnten. Er wusste, dass der Schlüssel, den er suchte, in diesem Symbol lag.
Was fünf ist, ist eins.
Ein schwaches Lächeln huschte über die Lippen des weisen Königs, als die Nachricht seines Vaters eine Bedeutung erhielt. Er streifte den Ring an den Zeigefinger seiner linken Hand, die noch immer mit seinem Blut beschmiert war. Das Wissen und die Macht waren sein, und nur sein. Und so sollte es für lange Zeiten bleiben, bis ein Würdiger käme, sie einzufordern.
Kapitel 1
Nordwestliche Grenze der Wüste Rub al-Chali
Saudi-Arabien
Die steilen Sandsteinklippen des Tuwaiq Escarpments erhoben sich aus den sandigen Weiten Zentralarabiens wie felsige Stalaktiten und warfen lange Schatten auf das ausgedörrte Niemandsland unter ihnen. Die Morgensonne ließ die Landschaft wie Pharaonengold glänzen und verlieh den sanft geformten Dünen im Blick der Felswand Konturen. Am fernen Horizont verloren sich die Gipfel und Täler des Sandmeeres in umbrabraunem Nebel.
Sarah Weston hielt ihr Pferd an und musterte das Terrain. Durch den feinen Sandschleier, der in der Luft hing, erschienen die Bergmassive im Osten ein wenig verschwommen, wie von einem antiken Spiegel reflektiert. Dieser Teil der Rub al-Chali unterlag dem Schamal, der manchmal harmlos war und andere Male alles in seinem Weg auslöschte. Abgesehen von den zähesten Nomaden mieden Menschen diesen Ort, an dem sich Sturmwinde ohne Vorwarnung – und ohne Gnade – erhoben.
Sarah spürte, wie das Flüstern einer Brise ihren weißen Florturban zum Flattern brachte, der die unbarmherzige Julisonne abwehrte, die mit Temperaturen von oft über fünfzig Grad auf das Land herabbrannte. Sie benutzte ein Ende des Turbans, um eine Mischung aus Schweiß und Sand von ihrem Gesicht zu wischen. Die winzigen Körnchen zerkratzten ihre helle Haut: ein vertrautes Gefühl.
Die Verhältnisse vor Ort konnten sich kaum deutlicher von denen ihrer privilegierten britischen Erziehung unterscheiden. Die Hausparties auf dem Landsitz ihrer Familie, die geistlose Gesellschaft, die Prominenz und der Einfluss ihres Vaters, das tragische Ende ihrer Mutter, ihre eigene kurzweilige Karriere unter den Gelehrten ihrer Alma Mater, der Universität Cambridge – sie alle waren Überreste einer weit entfernten Vergangenheit. Und so wollte sie es haben.
Sarah nahm die Weite des abgelegenen, ungastlichen Ortes in sich auf, den zu lieben sie gelernt hatte. Sie verspürte Ehrfurcht vor der ausgedehnten Wildnis von Sand und Stein, die so viele Geheimnisse früherer Zivilisation barg, und Demut vor der Unbeständigkeit der Wüste, die sich drehte und wendete wie eine kapriziöse Nymphe, die man flüchtig fassen, doch niemals besitzen konnte.
In dieser unwirtlichen Gegend hatte sie sieben Monate lang als die leitende Archäologin einer von den Universitäten Rutgers und König-Saud gemeinsam finanzierten Ausgrabung gearbeitet, deren Ziel es war, die antike kinditische Stadt Qaryat-al-Fau zu ergraben, die vom veränderlichen Sand der Rub al-Chali verschlungen worden war. Ins Boot geholt wurde Sarah vom Kulturanthropologen Daniel Madigan, der die Expedition vor sieben Jahren zusammengestellt und bedeutende neue Bereiche dieses einst stolzen Handelszentrums entdeckt hatte, dessen Blütezeit im ersten bis vierten Jahrhundert nach Christus gewesen war.
Heute allerdings hatten sich die beiden von der Fundstelle entfernt. Der Hitze wegen operierte die al-Fau-Ausgrabung mit einer reduzierten Crew nur zwei Stunden am Tag, wodurch ihnen viel Freizeit zur Verfügung stand. Zu Anfang des Sommers hatten Sarah und Daniel im Stillen damit begonnen, zwei Meilen nördlich von al-Fau zu graben, an jenem trostlosen Ort, den die beduinischen Nomaden das Tal des Windes nannten.
Dieser Vorstoß war von einer Abweichung auf ihren Satellitenbildern angeregt worden, welche die Möglichkeit eines unter dem Sand begrabenen Areals voller Überreste suggerierte. Tatsächlich war ihr Timing ein glücklicher Zufall: Wenige Monate zuvor hatte ein heftiger Sandsturm im Tal gewütet. Der unbändige Schamal hatte riesige Dünen fortgeweht und den Sand in alle Himmelsrichtungen verteilt. Auf diese Weise regenerierte sich die Wüste.
Und so enthüllte sie auch ihre Geheimnisse.
Daniel ließ sein Pferd neben Sarah zum Stehen kommen. Er verschob die schwarze Baseballmütze auf seinen schulterlangen, mahagonifarbenen Locken, die gerade von so viel Grau durchzogen waren, wie es seinen dreiundvierzig Jahren entsprach. Er sah seine Partnerin durch die dunkelgrüne Fliegersonnenbrille hindurch an und sprach in einem melodischen Tennessee-Akzent. »Ziemlich heiß hier draußen für ein englisches Mädchen. Geht's dir gut?«
»Ich könnte auf die Sauna verzichten. Abgesehen davon ging's mir nie besser.«
»Ja dann. Bereit zum Probensammeln?«
»Los geht's.«
Heute war der erste Tag, an dem sie Proben zur Analyse sammeln konnten, seit sie die über eine gute halbe Meile in der Wüste verteilten Knochen entdeckt hatten. Es gab hunderte von ihnen – porös, zerbrochen, halb im Sand begraben. Manche stammten von Kamelen, andere von Menschen, aber alle waren außergewöhnlich gut in der trockenen, keimfreien Umgebung ihrer Wüstengräber konserviert worden.
Handelte es sich um eine Karawane oder um eine Streitmacht? Die Fragen wirbelten durch Sarahs Kopf und steigerten ihre Aufregung, während sich eine Theorie zusammenzufügen begann.
Gemeinsam stiegen sie ab. Daniel griff in seine Satteltasche und zog ein Set Walkie-Talkies heraus, das einzige Kommunikationsmittel zwischen ihnen und den zwei Crewmitgliedern im Camp. Eines warf er Sarah zu.
Sie streichelte den Hals ihrer grauen Araberstute und klemmte das Walkie-Talkie an den Bund ihrer armeegrünen Cargohose, die in verwitterten Lederreitstiefeln steckte.
Geplant war, nach Süden zu gehen, wo sich die Felsenpassage zu einer Art Mulde verengte. Dort lagen die meisten der Knochen. Sie konnte sich bildlich vorstellen, wie die Kamele und ihre Reiter im Durchgang gefangen wurden, als sich große Sandsäulen erhoben, die ihre Verzweiflungsschreie zermalmten und sie ohne Gnade