Alles schwieg. Dann begann er französisch, damit der Engländer ihn verstehen konnte: »Ich wette fünfzig Imperials, oder wollen Sie hundert?«
»Nein, fünfzig«, erwiderte der Engländer.
»Gut, ich wette fünfzig Goldstücke, daß ich diese Flasche Rum austrinken werde, ohne abzusetzen, und daß ich sie hier außerhalb des Fensters sitzend austrinken werde, ohne mich an irgend etwas festzuhalten. Einverstanden?«
»Einverstanden«, sagte der Engländer.
Anatol hielt denselben am Rockknopf fest und wiederholte ihm auf englisch die Bedingungen.
»Das ist nicht alles«, rief Dolochow, indem er mit der Flasche auf die Fensterbank schlug, um sich Gehör zu verschaffen. »Kuragin, paß auf! Wenn jemand dasselbe tut, bezahle ich ihm hundert Goldstücke. Verstanden?«
Der Engländer nickte, machte aber keine Miene, diese neue Wette anzunehmen. Ein junger Gardehusar, welcher den ganzen Abend Unglück im Spiel hatte, kletterte auf das Fenster und blickte hinab.
»Oh! Oh!« murmelte er.
»Still!« rief Dolochow und zog den Offizier zurück, welcher an seinen Sporen hängenblieb und linkisch ins Zimmer stolperte.
Dolochow stellte die Flasche in die Fensteröffnung und kletterte langsam und vorsichtig hinauf. Dann stützte er sich mit beiden Händen gegen die beiden Seiten des Fensters und maß mit dem Auge seine Breite. Dann setzte er sich langsam nieder, ließ die Hände los, neigte sich etwas zur Linken, dann zur Rechten und ergriff die Flasche.
Anatol brachte zwei Kerzen und stellte sie in die Fensteröffnung. Es war jedoch schon heller Tag, Kopf und Rücken Dolochows, in Hemdsärmeln, waren von beiden Seiten beleuchtet. Alle drängten sich ans Fenster, der Engländer vor den anderen. Peter lächelte still. Plötzlich drängte sich einer der jungen Leute mißbilligend und erschreckt vor, in der Absicht, Dolochow am Hemd zurückzuziehen.
»Meine Herren, das sind Torheiten, er wird ums Leben kommen!« rief dieser weise Herr, der sicherlich vernünftiger war als die anderen. Anatol hielt ihn zurück.
»Rühre ihn nicht an, du wirst ihn erschrecken, und er fällt hinab. Was dann?«
Dolochow stützte sich auf die Hände und suchte sich ein zuversichtliches Ansehen zu geben.
»Wenn noch einmal jemand sich untersteht, sich einzumischen, so werfe ich ihn da hinab?« sagte er. Dann wandte er sich um, setzte die Flasche an den Mund, warf den Kopf zurück und erhob den Arm, der noch frei war, um sich ein Gegengewicht zu sichern. Einer der Diener, welche die Gläser auf dem Tische zusammenräumten, blieb unbeweglich in halb gebückter Haltung stehen und wandte keinen Blick von dem Fenster und Dolochows Kopf ab.
Der Engländer blickte mit zusammengepreßten Lippen zur Seite. Derjenige, welcher vergebens versucht hatte, diese Torheit zu hintertreiben, hatte sich in einer Ecke des Zimmers auf einen Diwan geworfen und kehrte das Gesicht nach der Wand. Peter bedeckte sich die Augen, und es trat eine tiefe Stille ein.
Als Peter die Augen öffnete, sah er Dolochow in derselben Stellung im Fenster sitzend, nur der Kopf war noch stärker zurückgeneigt, während der Arm, der die Flasche hielt, sich immer höher hob und bei der Anstrengung etwas schwankte. Die Flasche wurde sichtbar leerer.
»Wie lange das dauert!« dachte Peter; er glaubte, es sei eine halbe Stunde verflossen. Dolochow machte plötzlich eine Bewegung, und sein Arm zitterte stark. Da er auf der nach abwärts geneigten Fensterbrüstung saß, konnte diese nervöse Bewegung ihn hinabstürzen. Unwillkürlich erhob er eine Hand, wie um sich an dem Fensterkreuz anzuklammern, ließ sie aber sogleich wieder sinken. Peter schloß die Augen in der Absicht, sie nicht wieder zu öffnen, aber eine allgemeine Bewegung, die einen Augenblick darauf entstand, veranlaßte ihn, aufzublicken, und er sah Dolochow bleich, aber vergnügt in der Fensteröffnung sitzen.
»Sie ist leer!« Er warf die Flasche dem Engländer zu, der sie im Fluge auffing. Dolochow sprang ins Zimmer in einer Wolke von Branntweinduft.
»Bravo! Bravo! Das ist eine Wette!« riefen alle zugleich.
Der Engländer hatte seine Börse gezogen und rechnete mit Dolochow ab, der schweigsam und mürrisch geworden war. Peter stürzte an das Fenster. »Meine Herren, wer wettet mit mir, daß ich dasselbe tun werde? Und selbst ohne Wette! Schnell eine Flasche, schnell!«
»Bist du wahnsinnig geworden? Was fällt dir ein? Das darf nicht sein, hörst du? Du wirst ja schon auf einer Treppe schwindelig«, riefen mehrere Stimmen durcheinander.
»Eine Flasche her«, rief Peter, »ich werde sie austrinken!« Und er schlug heftig auf den Tisch. Einer der jungen Leute stürzte auf ihn zu, aber Peter schob ihn leicht zur Seite.
»Nein, so werden Sie ihn nicht halten«, sagte Anatol. »Höre!« rief er Peter zu, »ich werde die Wette halten, aber nicht früher als morgen! Jetzt gehen wir alle zu…«
»Gut, gut, gehen wir«, rief Peter vergnügt, »und Mischka nehmen wir mit!« Er ergriff den jungen Bären, umfaßte ihn mit seinen Armen, hob ihn auf und tanzte mit ihm durchs Zimmer.
10
Der Fürst Wassil hatte das Versprechen, das er der Fürstin Drubezkoi gegeben hatte, nicht vergessen. Die Bitte wurde dem Kaiser vorgetragen und der Sohn der Fürstin ausnahmsweise als Leutnant in die Garde, in das Semenowsche Regiment aufgenommen. Aber trotz aller Anstrengungen seiner Mutter wurde Boris nicht Adjutant von Kutusow. Einige Zeit nach der Soiree kehrte die Fürstin nach Moskau, zu Rostows, ihren reichen Verwandten, zurück, wo sie sich immer aufhielt. Hier hatte ihr kleiner angebeteter Boris den größten Teil seiner Kindheit verlebt. Die Garde hatte Petersburg am 10. August verlassen, und der junge Mann, der in Moskau durch die Equipierung aufgehalten wurde, sollte sie in Radsiwilow einholen.
Es war ein Fest bei Rostow, man feierte den Namenstag der Mutter und der jüngsten Tochter Natalie. Eine lange Reihe Wagen brachte eine Menge Besucher nach dem Hause in der Pawarskajastraße. Die Gräfin empfing sie mit ihrer älteren Tochter, einem hübschen Mädchen, im Salon.
Die Mutter war eine Frau von fünfundvierzig Jahren, mit orientalischem Typus, magerem Gesicht und augenscheinlich etwas erschöpft durch die zwölf Kinder, die sie ihrem Manne geschenkt hatte. Ihre lässigen Bewegungen und langsames Sprechen, welche von ihrer Schwachheit herkamen, verliehen ihr ein imposantes Wesen. Die Fürstin Drubezkoi war bei ihr und half als Familienmitglied die Gäste zu empfangen und das Gespräch zu unterhalten. Die jungen Leute, denen nichts daran lag, an dem Empfang teilzunehmen, hielten sich in den inneren Zimmern auf. Der Graf ging den Ankommenden entgegen und lud sie alle zu Tisch ein.
»Ich bin Ihnen aufrichtig dankbar, ma chére oder mon cher«, sagte er unabänderlich zu jedem, zu Niedrigstehenden so gut wie zu Höherstehenden, »ich sage Ihnen meinen Dank im Namen derjenigen, deren Namensfest wir feiern. Sie werden unfehlbar zum Diner kommen, nicht wahr? Sonst würden Sie mich beleidigen, mon cher. Ich bitte Sie, mit Ihrer ganzen Familie zu kommen, ma chére.« Er wiederholte genau dieselben Worte bei jeder Einladung und begleitete sie genau mit demselben Gesichtsausdruck. Darauf folgte dann Händedrücken und wiederholte Begrüßung. Nachdem er von den Abfahrenden sich verabschiedet, kam er zu denen zurück, die noch blieben, schob sich einen Lehnstuhl herbei, stellte die Beine vor sich und stützte die Hände auf die Knie. Bald wandte er sich rechts, bald links, wie ein Mann, der Lebensart zu besitzen glaubt. Der Diener der Gräfin erschien an der Tür und meldete mit seiner Baßstimme: »Maria Lwowna Karagin!«
Die Gräfin überlegte einen Augenblick, indem sie aus einer goldenen Tabaksdose eine Prise nahm.
»Mein Gott, wie diese Besuche mich erschöpft haben! Und nun noch diese; sie ist so langweilig! Ich lasse bitten, einzutreten!« rief sie traurig dem Diener zu, als ob sie sagen wollte: »Oh, das wird mein Ende sein!«
Eine