Eisenjahre. Chrisanna Burkhardt. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Chrisanna Burkhardt
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783902862488
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als niuwenchirgun erwähnt, mit Markt- und Münzrecht ausgestattet, aber erst 1920 zur Stadt erhoben, litt diese Region im 13. Jahrhundert unter der offensichtlichen Bevorzugung einer nahen, etwas größeren Stadt durch die Babenberger. Ein Stachel, der auch nach fast tausend Jahren genetisch vererbt im Fleisch der Niuwenchirgunern sitzt, weil die Bewohner der gehätschelten »allzeit getreuen« Babenberger Stadt noch immer ein wenig hochmütig auf den schon im Mittelalter regen Markt und die später bedeutende Industrieregion hinabschielen.

      Aber auch Neuzeitlicheres gibt es zu berichten. Etwa von der Zwischenkriegszeit des vorigen Jahrhunderts. Lange schon war der Ort Mittelpunkt der weitreichenden Region, in der sich auch die Sommerresidenz des letzten österreichischen Kaisers befunden hatte. Daher fand sich hier eine bunte Mischung aus Bürgern, Aristokraten, Handwerkern, Arbeitern, aus sehr Armen und sehr Reichen und aus durchschnittlich Armen und Reichen zusammen. Auch vieler sozialer Einrichtungen konnte sich die Stadt bereits in vorigen Jahrhunderten rühmen: einer Reihe von Schulen, einem vorbildlichen Krankenhaus, Stadtpark, Schwimmbad, auch einem Armenhaus – für Notfälle. Aus der französischen Schweiz wanderten Fabrikanten ein, errichteten imposante Werke und gründeten Banken (Schweizer eben). Die Textilindustrie mit Weberei, Spinnerei, Näherei, Färberei und Blaudruck war in der Region sehr dominant, ebenso die industrielle Holzschraubenerzeugung. Eine multikulturelle Bevölkerung also, auch nach dem Zerfall der Donaumonarchie.

      Da gab es einen Gemeindearzt, der zur allgemeinen Verwirrung gleichen Familiennamens war wie der Veterinär. Nicht selten kam es vor, dass den geplagten Arzt, der nicht nur die Stadtbevölkerung, sondern auch die umliegenden Dörfer zu betreuen hatte, mündliche oder telefonische Hilferufe aufgeregter Bäuerleins erreichten: »Mit der Sau ist es so weit!« Ein einziges Mal deutete der Arzt die Aufforderung, zu »der blöden Kuh« zu kommen, falsch und so oblag es dann dem auf eindringliche und ausdrückliche Empfehlung herbeigerufenen Veterinär, der Bauerntochter bei der Geburt ihres dritten unehelichen Kindes beizustehen.

      Da war auch der katholische Stadtpfarrer, nie einem guten Tropfen abgeneigt, der den mit Messwein gefüllten Kelch während der Messe hochhielt. »Prost!«, rief da eines der fürwitzigen Schäflein in die geheiligte Zeremonie hinein. Unbeirrt leerte der Pfarrer den Kelch, hob ihn dann in Richtung des frevlerischen Frechdachses und zwinkerte »Amen!«.

      »Ob Ihr Pfarrer auch einmal heiraten dürft?«, neckten ihn einige am Wirtshaustisch, wohl wissend um das Gerücht, das von einer unfrommen Verbindung zu einer ansehnlichen Gemeindeschwester berichtete. »Werde ich selbst nicht mehr erleben«, seufzte der Pfarrer. »Aber vielleicht die Kinder ...«

      Einmal schlenderte er mit dem Bürgermeister über den Hauptplatz. Angeregt durch das Gespräch, entfuhr Hochwürden ein lautes, durchaus weltliches Verdauungsgeräusch. »Aber, Hochwürden! Was werden die Leute denken?«, tadelte der Gemeindehöchste. »Dass Sie es waren«, erwiderte der Pfarrer fröhlich.

      Gar nicht so weit gefehlt. Denn seit einem peinlichen Auftritt trauten die Leute diesem Bürgermeister jegliches Missgeschick zu. Es war in den späten 20er Jahren, als sich ein höchst angesehenes Regierungsmitglied ankündete. Eigentlich war es nur auf der Durchreise, aber es wollte auch kurz zur Bevölkerung der kleinen Stadt sprechen, teilte man direkt aus Wien mit. – Große Aufregung in der Stadtgemeinde. Der geachtete Deutschprofessor des Gymnasiums wurde beauftragt, eine besonders geistreiche Begrüßungsrede zu entwerfen, die der Bürgermeister dem Ehrengast vortragen würde. Die Rede soll brillant gewesen sein, in kurzen, aber einprägsamen Sätzen die Bedeutung der kleinen Stadt hervorhebend, wie auch der Freude Ausdruck verleihend, dass die hohe Regierungspersönlichkeit der Bevölkerung die Ehre gab.

      »Und vergessen Sie nicht, sich selbst vorzustellen!«, riet man dem Bürgermeister, der schließlich an jenem denkwürdigen Tag hochrot vor Aufregung bei der Ortseinfahrt stand, wo Kinder Blumen streuten, Girlanden geschwenkt wurden und die Stadtkapelle eine feierliche Begrüßungsmelodie intonierte.

      Begonnen damit, dass die hochstehende Persönlichkeit sich tatsächlich auf der Durchreise befand, aber nicht von Wien kommend, sondern schon wieder dorthin zurückfahrend, und sich daher das Begrüßungskomitee am falschen Ende der Stadt placiert hatte, verwischte sich die in sorgfältiger Schönschrift mit Tinte geschriebene Rede durch verstärkte Schweißeinwirkung in der Brusttasche des bürgermeisterlichen Festgewandes. Zudem erwies es sich als schwierig, die etwas starrköpfige Bevölkerung zu animieren, sich nunmehr in die entgegengesetzte Richtung zu wenden.

      Der Bürgermeister war am Ende seiner psychischen Kräfte, als endlich die Wagen heranfuhren, mit zurückgeklapptem Verdeck, die geachtete Persönlichkeit hoch aufgerichtet, weiß behandschuht nach allen Seiten winkend, möglicherweise etwas irritiert von der mehrheitlichen Rückenansicht der Bevölkerung und den abgewandten Köpfen. Unter den ehrfürchtig ersterbenden Klängen der Blasmusik stieg sie schließlich aus dem Wagen und schritt auf die Stadtväter zu. Man schubste den vor Aufregung starren Bürgermeister nach vorne und zischte ihm nochmals zur Erinnerung zu: »Stellen Sie sich vor!«

      »Willkommen«, stammelte er. »Stellen Sie sich vor, ich bin der Bürgermeister ...«

      Was soll’s, die Leute hatten wieder etwas zu bereden und zu belachen. Ein wenig Spott musste sich ein Bürgermeister dieser Stadt schon gefallen lassen, war es doch seinem Amtsvorgänger wesentlich schlechter ergangen. Als der einer Forderung nicht zustimmen wollte, stürmte eine rabiate Gruppe Aufständischer das Rathaus, schleppte ihn auf den Hauptplatz und hängte ihn dort kurzerhand an der Pestsäule auf. Selbstverständlich blieben auch sie nicht unbestraft und wurden im Kreisgericht angeklagt und hingerichtet, aber die gesamte Angelegenheit ging durch die heimische Presse und hatte überregionale Konsequenzen.

      Als einige Zeit später Stadtbewohner in die Steiermark reisten und dort, nach ihrer Herkunft befragt, den Stadtnamen preisgaben, verstummten die braven Steirer erst betreten und vergewisserten sich dann stirnrunzelnd: »Von dort, wo sie immer alle Bürgermeister aufhängen?«

      Mangelhafte Sorgfalt bei Recherche und Berichterstattung sowie Verallgemeinerungen sind demnach keinesfalls nur unliebsame Phänomene unserer Tage. Jedenfalls hatte sich die kleine Stadt ihren Ruf für längere Zeit gründlich verdorben.

      Ja, die Schmiede – eine der wesentlichen Einrichtungen der Stadt, deren Errichtung durch einen weiß gefiederten Vogel begründet war. Keine anmutige Friedenstaube, keine kluge Eule, kein wappenschmückender Adler bestimmten als gefiederte Klischeevorstellung das Schicksal des Schmiedes. Es war eine Gans, gut gemästet, mit prachtvollem weißem Gefieder, zu nichts anderem bestimmt als goldbraun gebraten, umkränzt von Rotkraut und anderen Beilagen, auf einem Silbertablett serviert, eine festliche Tafel zu krönen, aber nicht ihn, sondern seinen Sinn nach Gerechtigkeit und Anständigkeit nährend ...

      1 »Ziegen-Leopold«

      DIE SCHICKSALSGANS

      An einem Oktobertag des Jahres 1909 wurde Raimund N., Zögling an der k.u.k. Lehrerbildungsanstalt zu W., erstmals mit dem für ihn damals noch überraschenden Indiz für Beamtenbestechlichkeit konfrontiert. Raimund befand sich zu Beginn des fünften Semesters seiner Ausbildung, als er unerwartet zum Rektor der Schule gerufen wurde.

      Sich keiner Schuld bewusst, betrat er also das holzgetäfelte Büro, wo der Schulvorstand an seinem ausladenden Schreibtisch gerade sein Gabelfrühstück einnahm und wartete in respektvollem Abstand ab, bis sich der nunmehr friedlich Gesättigte zurücklehnte und ihn eingehend, durchaus nicht unfreundlich, musterte. Dann fragte