An der englischen Gesandtschaft aber ließ man ein Stück der von Kugeln durchlöcherten Mauer unberührt stehen und schrieb daran: »Lest we forget!« Diese Worte sind jedoch längst verblasst, und die Mauer ist mit Moos überzogen. Der Weltkrieg hat andere Feinde geschaffen und man ließ nicht nach, bis man China in diesen Krieg der Zivilisation gegen die deutschen Barbaren hineingezogen hatte. Bei der Friedensfeier versuchten betrunkene französische Soldaten den Kettelerbogen umzureißen, was ihnen jedoch misslang. Die chinesische Regierung hat ihn dann an sich genommen. Heute steht er am Eingang des Zentralparks, in dem sich die Jugend Pekings amüsiert und trägt wieder eine lateinische und eine chinesische Inschrift: »Dem Sieg des Rechts«. Man fragt sich im Grunde vergebens, was mit dem Recht gemeint ist, das gesiegt hat. Ist es der Gesandtenmord, der nun nachträglich unter allgemeiner Zustimmung der Alliierten sanktioniert werden soll? Oder sind es die Versprechungen, die man China beim Eintritt in den Krieg gemacht hat und die man bis auf den heutigen Tag nicht zu erfüllen gewillt ist? In Wirklichkeit wäre es im eigentlichen Interesse Chinas, wenn man diese volltönende Inschrift, die von den Tatsachen längst überholt ist, in aller Stille entfernen würde. Aber wie dem auch sei, auch diese Inschrift wird nicht ewig dauern.
Jene Zeit hatte auch in Schantung kleinere Störungen im Gefolge. Der Bau der Bahn von Tsingtau nach Tsinanfu war begonnen worden. Allein verschiedene Umstände wirkten mit, den Bahnbau in der chinesischen Bevölkerung sehr unbeliebt zu machen. Zum Teil herrschte noch der Aberglaube, der eine Störung der Ahnengeister fürchtete, zum Teil hatte man – wie sich später herausstellte – sehr berechtigte Befürchtungen, dass die Überschwemmungsgefahr für gewisse tiefliegende Landstriche durch den Bahndamm vermehrt werde, zum Teil gab es Missverständnisse zwischen Bahnangestellten und Bevölkerung.
Kurz, es kam zu Störungen des Bahnbaus, in deren Folge eine militärische Expedition ins Hinterland Tsingtaus nach Kaumi ausgerüstet wurde.
Hier kam es nun zu äußerst bedauerlichen Konflikten zwischen europäischer und asiatischer Denkweise. Als die deutschen Truppen anrückten, schlossen die Dörfer ihre Tore zu und begannen mit ihren vorsintflutlichen Kanonen in die Luft zu schießen, wie sie das gewohnt waren, wenn Räuber um den Weg waren. Wie erstaunten sie jedoch, als die deutsche Artillerie sich davon nicht erschrecken ließ, sondern wiederschoss, und mit welch vernichtendem Erfolg! Die Frauen und Kinder wollten nun zu einem Seitentor hinaus entfliehen. Aber von deutscher Seite hielt man die Frauen in ihren roten Hosen für Boxer und nahm sie unter Maschinengewehrfeuer. Unterdessen begann auch ein entferntes Dorf seine Böller zu lösen. Die Deutschen zogen ab, um jenes Dorf in Brand zu schießen. Als sie zurückkamen, waren die Boxer, die im ersten Dorf den Widerstand organisiert hatten, entkommen und die eingesessene Bevölkerung hatte die Not des Krieges zu erdulden.
Ich hörte in Tsingtau von diesen Dingen. Ich war überzeugt, dass es sich um gegenseitige Missverständnisse handle. Und trotz Abreden bedenklicher Freunde entschloss ich mich, in die Gegend zu reisen, um zu versuchen durch Vermittlung Menschenleben zu retten.
Es gab nun viel zu tun und zu besprechen. Da alle Verhandlungen auf Chinesisch geführt werden mussten, so lernte ich in jenen Wochen ganz von selbst die chinesische Sprache meistern. Besonders aufregend war die Geschichte eines entfernten Dorfes, das der Aufforderung, die Waffen abzuliefern nicht Folge zu leisten gewagt hatte. Schon war ein Strafzug geplant. Mit Mühe erreichte ich Aufschub bis zum nächsten Morgen. Ich ging zum Ortsbeamten und teilte ihm die Lage mit. »Dem dummen Volk, das noch immer nichts gelernt hat, ist nicht zu helfen«, war seine Antwort. Da musste ich ihn recht ernst an seine Verantwortung erinnern. Noch in derselben Nacht wurden reitende Boten abgesandt. Am nächsten Morgen zählte ich mit Aufregung die Stunden. Schon war die Strafabteilung zum Aufbruch fertig. Ich hatte Nachricht, dass die Waffen kommen und konnte sie noch einige Minuten zurückhalten. Endlich verlor der Offizier die Geduld und wollte eben den Befehl zum Abmarsch geben. Da tauchten die Leute auf dem nächsten Hügel auf. Sie hatten ihre Waffen getreulich mitgebracht. Verrostete Schwerter und Donnerbüchsen und ein paar alte Mörser, aus denen man steinerne Kugeln ein paar hundert Meter weit schleudern konnte. Man war aber damals sehr scharf darauf aus, die Entwaffung wirksam durchzuführen.
Schließlich gelang es mir, die Vertreter aller Dörfer des Kreises zusammenzubringen. Sie hatten ihre Waffen abgeliefert und ich konnte ihnen die Beruhigung geben, dass sie künftig geschont werden sollten. Noch lange hatte ich mit meinen Gehilfen zu tun, die Verwundeten, namentlich Frauen und Kinder, zu verbinden und zu versorgen. Eine rührende Dankbarkeit der Bevölkerung war die Folge. Eine Menge von seidenen Ehrenbehängen wurde mir überreicht, in denen die Leute für ihre Rettung dankten und schließlich wurde mir auf Antrag des Provinzialgouverneurs von der chinesischen Regierung sogar der Rangknopf eines Mandarins verliehen.
Auf die Boxerzeit folgte eine Zeit sehr starker Gegenströmung. Waren früher die Christen verfolgt worden, so suchten sie sich jetzt an ihren Feinden mit Hilfe der Missionare zu rächen. Ja, gar mancher schloss sich an eine Kirche an, um auf diese Weise einen Prozess, den er mit seinen Nachbarn hatte, wirksam unterstützen zu lassen. Denn wenn es gelang, den Nachbarn als früheren Boxer zur Anzeige zu bringen, so war sehr viel zu hoffen.
Solche Erfahrungen ließen mich eine ganz neue Missionsmethode für China bevorzugen. In einem Land wie China wird es dem Europäer selten gelingen, die moralische Höhenlage eines Christen, den er taufen soll, vollkommen zu durchschauen. Dennoch übernimmt die Kirche die Verantwortung für ihre Mitglieder und nichts schadet dem Christentum in China mehr als ein zweifelhafter Lebenswandel seiner Bekenner. Denn nicht die Lehre macht den Menschen groß, sondern der Mensch macht die Lehre groß. Die katholische Kirche, der die einzelne Generation nichts ist, rechnet mit diesen Faktoren. Sie nimmt unbedenklich auch zweifelhafte Elemente auf in der festen Zuversicht, dass die Kinder und Enkel solcher Konvertiten einst gute Christen werden. Der Individualismus der Protestanten lässt solche langfristigen Wechsel nicht zu.
Aber eben deshalb schien es mir richtiger, mich auf das einfache Leben nach christlichen Grundsätzen zu beschränken, durch Schule und Hospital zu wirken, mit den Menschen zusammenzuleben und ihnen innerlich nahe zu kommen, indem ich es dem Wirken des Geistes überließ, was sich daraus gestalten würde. Eine Kirche in einer Kulturnation kann sich nur von selbst konstituieren, sie kann nicht unter der Leitung von Fremden – oft solchen von niedriger gesellschaftlicher Bildung und ohne Takt – stehen, ohne selbst zur Inferiorität verdammt zu sein. So habe ich denn niemand in China getauft und bin dem Wesen des chinesischen Volkes vielleicht eben dadurch umso näher gekommen. Und ich habe nie Konflikte gehabt wegen eines Anhangs unerwünschter Konvertiten.
Zum Schluss sei noch eine Frage beantwortet, die gegenwärtig häufig gestellt wird. Weil nämlich um die Jahrhundertwende viele Kenner einen Ausbruch vorausgesagt hatten, der von den leitenden Kreisen nicht geglaubt wurde, dünken sich auch heute manche Menschen besonders klug, wenn sie einen neuen Boxeraufstand für die nächste Zukunft weissagen. Der Nachtmahr von der gelben Gefahr gehört ebenfalls in dieses Gebiet. In Wirklichkeit aber darf man ziemlich beruhigt sein. Der Boxerkrieg beruhte einerseits auf nationaler Begeisterung und religiösem Fanatismus; aber um solche Dimensionen annehmen zu können, wie er es getan hat, gehörte auch die ganze geografische Unwissenheit jener Zeit dazu. Heute aber kennt man in China etwas von der Welt. Man weiß, dass die Fremden nicht spärliche Bewohner ferner Inseln sind, sondern reale Mächte, mit denen man rechnen und sich auseinandersetzen muss. Diese Auseinandersetzungen können vielleicht noch manche Überraschung bringen, aber einen Ausbruch der »Faust zum Schutz der öffentlichen Ruhe« wird es nicht mehr geben.
Drittes