Tschang Tschï Tung war ein Mann des Kompromisses. Er war freilich von weit stärkerem Kaliber als sein langjähriger Sekretär Ku Hung Ming, den er trotz dessen fanatischer Fremdenfeindlichkeit lange duldete, ohne ihm jedoch Einfluss auf die Geschäfte zu gestatten. Aber weil er nicht ganz tief und original war, ist er schließlich doch gescheitert. Immerhin sind der Klang seines Namens und die Überreste seines Werkes in Wutsch’ang, wo jetzt ein Militärgouverneur herrscht, noch auffallend lebendig.
Welch seltsames Gemisch von Geschmack in chinesischen Dingen und absoluter Richtungslosigkeit in europäischen Dingen unmittelbar zusammenstehen konnte, davon kann man gerade in Wutsch’ang noch manches Beispiel sehen. Wutsch’ang ist einer der Orte mit großer historischer Vergangenheit. Der Roman von den drei Reichen hat einen seiner Schauplätze in jener Gegend. Dort in der Nähe ist die rote Wand, eine Felswand, die jäh in den Fluss abstürzt und die der Sage nach rot gebrannt wurde von dem Feuer, in dem eine große Flotte eines der streitenden Reiche zugrunde ging, die in der chinesischen Poesie durch die Jahrhunderte hin ihre Schatten wirft. In Wutsch’ang stand auf einer Höhe über dem majestätisch sich ausbreitenden Strom der Turm der gelben Kraniche, ein Gebäude, das die schönste Aussicht stromauf und stromab bot und das selbst als Wahrzeichen der Stadt in seiner architektonischen Schönheit zu den berühmten Orten Chinas gehörte. Wie so manches berühmte Gebäude brannte es vor einigen Jahrzehnten ab. An seiner Stelle wurde nun ein modern europäisches Backsteingebäude im Stil einer Garnisionskirche gebaut, das zum Empfang von fremden Gästen dienen sollte und dessen groteske Hässlichkeit die ganze Gegend verdirbt. Dabei war der Erbauer dieser Scheußlichkeit ein Mann, der ein feines Kunstverständnis besaß in allem, was chinesische Dinge anlangte. Das ist das Entsetzliche an dieser Kulturkombination, dass die europäische Zivilisation immer in ihren hässlichsten und gemeinsten Erscheinungen, billig und schlecht, sich ausbreitet und die einheimische Kultur im Keim vergiftet. Von hier aus kann man die Feindschaft gerade der feinsinnigen und gebildeten Gelehrten, wie der Mitglieder jener Ts’ing Liu Tang, die sich dem Eindringen europäischer Kultur vergeblich entgegengestellt hatten, verstehen.
Dieses mittelchinesische Zentrum hat übrigens weiter unten am Yangtse, in Nanking, noch eine Stadt, die ebenfalls der Sitz eines Generalgouverneurs war. Nanking, die südliche Hauptstadt, die einst der Sitz der Regierung des großen Ts’in Huang Ti war, umgibt mit seinen Mauern ein ungeheures Areal, in dem Hügel und Flächen sich abwechseln. Aber es ist seit den schrecklichen Zerstörungen, die im Gefolge der Taipingrebellion über die Stadt hereinbrachen, ein verödeter Platz. Eigentlich war ihm schon das Urteil gesprochen, seit Yunglo, der dritte Herrscher der Mingdynastie, aus strategischen Gründen die Hauptstadt nach Norden, Peking, verlegt hatte. Aber zu dem Bezirk von Nanking gehört Schanghai, die Weltstadt, in der Nähe der Yangtsemündung, und diese Stadt gibt der ganzen Gegend ihr Gepräge. Es ist selbstverständlich, dass hier, wo die ungeheuren Aktienunternehmungen wie die Commercial Press, eine Druckerei, die zu den umfangreichsten der ganzen Welt gehört, und alle die vielen teils chinesischen, teils europäischen Handels-, Schifffahrts- und Industrieunternehmungen sich befinden, die ganze Reformfrage ein wesentlich akuteres Aussehen von Anfang an hatte als in den mehr im Innern gelegenen Zentren. Schanghai ist sozusagen das Laboratorium, in dem auf wirtschaftlichem und industriellem Gebiet die Synthesen ausprobiert werden zwischen östlichen und westlichen Kulturformen. Wenn Peking auch stets der intellektuelle Mittelpunkt ist, so ist Schanghai in praktischer Hinsicht dem übrigen China immer um einen Schritt voraus.
Das dritte Zentrum der Reformbewegung ist Kanton. Die Südprovinzen liegen von den alten Mittelpunkten chinesischer Kultur abseits. Sie sind erst verhältnismäßig spät in den Umkreis des chinesischen Geistes einbezogen worden. Auch rassenmäßig findet sich ein gewisser Unterschied. Obwohl die meisten der Familiennamen auf chinesischen Ursprung hinweisen und auch der Dialekt eine sogar ursprünglichere, weniger abgeschliffene Form des chinesischen Sprachstammes darstellt, so sind die Menschen doch viel südlicher, heißblütiger, radikaler, abergläubischer als im Norden. Es ist daher kein Zufall, dass der chinesische Kulturzusammenhang sich hier am lockersten erweist und gerade von hier aus der Hauptstrom der Auswanderer nach dem Süden und Osten sich ergießt, der die Inselwelt Südasiens mehr und mehr unter wirtschaftliche Kontrolle bringt, ganz einerlei, wer die politischen Herrscher sind. In Niederländisch-Indien, ebenso wie in den englischen Straits-Settlements, dehnt sich der Einfluss der chinesischen Ansiedler auf wirtschaftlichem Gebiet immer mehr aus, und seit nun in Schanghai eine große Unterrichtsanstalt für Auslandschinesen gegründet ist, werden diese Kreise auch immer mehr kulturell zusammengefasst.
Aber diese Südprovinzen sind zugleich der Sitz radikaler Bewegungen. Hier hatte der Taipingaufstand seinen Anfang und von hier aus waren die radikalen Reformer K’ang Yu We und Liang K’i Tsch’ao nach Norden gekommen. Hier bildete sich nun auch ein Auslandsstudententum aus, das nicht für den Bestand der chinesichen Kultur, sondern für die Dynastie selbst gefährlich werden sollte.
Die von der Kaiserin-Witwe und ihren Ratgebern eingeleiteten Bildungsreformen litten nämlich an Systemlosigkeit. Während die Reform in Japan, ausgehend von einer Handvoll festentschlossener, zielbewusster und vollkommen geheim arbeitender Männer, nach einem beinahe mathematisch ausgezirkelten Plane, Schritt für Schritt zur Ausführung kam, waren die Verhältnisse in China viel chaotischer. Es gab in China unter den großen Führern der Nation niemand, der die nötigen Detailkenntnisse für die einheitliche Durchführung einer so ungeheuren Aufgabe gehabt hätte. Man darf ja nicht vergessen, dass die Aufgabe in China weit schwieriger war als in Japan, dessen übersichtliche Verhältnisse höchstens einer bis zwei der einzelnen chinesischen Provinzen gleichkamen. Außerdem handelte es sich in China nicht wie in Japan einfach um einen Wechsel des Gewandes, sondern um eine Neugestaltung aus der Tiefe heraus. Man hätte denken sollen, dass China, wenn es selbst die Männer noch nicht besaß, die die positiven Kenntnisse für eine solche Reform hatten, zu der Auskunft Japans hätte greifen können und ausländische Berater in umfangreichem Ausmaß hätte anstellen können, die dann die Verantwortung für die richtige Durchführung der Reformen gehabt hätten.
Auch dies ist nur bis zu einem gewissen Grad geschehen. Da und dort wurden wohl Ratgeber für die Reformen beigezogen, aber man gab ihnen nie volle Gewalt, so dass sie doch ziemlich gehemmt waren. Verschiedene Gründe lassen sich dafür angeben. Einmal war die Fühlung zwischen China und den fremden Ländern noch nicht so weit hergestellt, dass die Möglichkeit vorhanden gewesen wäre, die geeigneten Leute unmittelbar auszuwählen. Zudem gab es in diesen Ländern ja wohl Fachkenner, aber keine solchen, die zugleich mit den chinesischen Verhältnissen und Bedürfnissen so vertraut waren, dass sie vor groben Missgriffen absolut sicher gewesen wären. Man musste also die heranzuziehenden Ratgeber den in China anwesenden Fremden entnehmen. Hierfür kamen in erster Linie die Zollbeamten und die Missionare in Betracht.
Der chinesische Seezoll ist eine Einrichtung von Sir Robert Hart, die jahrzehntelang als Verwaltungskörper geradezu musterhaft funktioniert hat. Auch die Postverwaltung und später die Salzverwaltung haben sich