Nun trat Krag rasch in das kleine Schlafgemach. Er öffnete vor allem das Fenster, um frische Luft einzulassen, und begann dann die wenigen Gegenstände zu untersuchen, die sich in dem Zimmer befanden.
In der einen Ecke stand eine alte solide eiserne Kasse, die war natürlich versperrt. Wenn der Detektiv einen Augenblick das Verschwinden des Agenten Jaerven mit einem kühnen Einbruchsdiebstahl in Verbindung gebracht hatte, so war er auf jeden Fall jetzt gründlich enttäuscht. Der eiserne Geldschrank zeigte keine Spuren, geöffnet worden zu sein, die Schlösser und alles übrige war in der schönsten soliden Ordnung. Im übrigen empfing der Detektiv nicht den Eindruck, daß der Agent die Wohnung in besonderer Eile verlassen hatte; aber die Sachen waren auch nicht so geordnet, als ob er bei seinem Fortgehen auf eine längere Abwesenheit vorbereitet gewesen wäre. Der Detektiv mußte mit einem Seufzer gestehen, daß die Wohnung nicht den geringsten Anhaltspunkt zu einer Lösung des Rätsels bot. Vorläufig konnte er auch die Kasse nicht öffnen, da er ja nicht wußte, ob der verschwundene Wucherer tot oder am Leben war.
Im Schlafzimmer stand außer der Kasse und dem Bett eine alte abgestoßene Kommode. Der Detektiv versuchte, die Laden herauszuziehen; aber sie waren alle zugesperrt. Während er noch damit beschäftigt war, entdeckte sein Blick auf dem Fußboden, gerade unter der Kommode, ein Kuvert. Es war an den Agenten Jaerven adressiert, und eine Fünföremarke war daraufgeklebt. Das Kuvert trug den Poststempel vom Elften. – Also dem Tage, bevor Agent Jaerven verschwand, dachte Krag. Er untersuchte das Kuvert mit Interesse genauer. Darin lag ein kleiner zusammengefalteter Bogen. Der Detektiv zog ihn heraus und las folgendes:
Christiania, den 11. April.
Treffen Sie mich heute abend in der Höhle und nehmen Sie den »kleinen Blauen« mit.
Der Brief hatte keine Unterschrift.
Krag steckte ihn vorläufig in die Tasche, um ihn später näher zu untersuchen. Und nachdem er sich vergewissert hatte, daß vorläufig nichts weiteres von Interesse zu finden war, verließ er die Wohnung mit der Witwe und den beiden Schutzleuten. Er bat den einen Schutzmann, dafür zu sorgen, ein provisorisches Schloß an der aufgebrochenen Tür anzubringen, damit niemand Unberufener Eingang finden konnte.
Bevor sich der Detektiv von der Witwe verabschiedete, fragte er:
»Erinnern Sie sich, welchen Anzug der Verschwundene anhatte, als Sie ihn zum letztenmal sahen?«
»Daran erinnere ich mich ganz genau,« gab die Witwe zurück; »er hatte seinen dicken braunen Rock an, den er Winter und Sommer immer trug. Auf dem Kopf hatte er seinen breitkrempigen grauen Hut. Der war so alt, daß ihm die Krempe ganz schlaff über die Ohren hing.«
Der Detektiv überlegte.
»Jaerven verschwand Donnerstag, den Zwölften,« murmelte er, »heute schreiben wir den Zweiundzwanzigsten. In der Zwischenzeit haben wir drei heftige Regengüsse gehabt, den Siebzehnten, Achtzehnten und Neunzehnten. Der Agent kann sich unmöglich in der Stadt aufhalten, sonst wäre er doch nach Hause gegangen oder hätte seinen Regenmantel und seinen Regenschirm holen lassen, die sich unberührt oben im Zimmer vorfanden.
Und seine Geschäfte, seine verfallenen Wechsel,« fuhr Krag in seinen Betrachtungen fort. »Ich kann mir nicht denken, daß er sie mit freiem Willen verlassen hat.«
»Glauben Sie, daß er zurückkommt?« fragte jetzt die Witwe beunruhigt.
»Nein,« erwiderte der Detektiv, »das glaube ich nicht.«
Damit ging er.
Auf dem nächsten Standplatz nahm er eine Droschke und fuhr zu einer Zeitungsexpedition.
Hier schrieb er folgende Annonce, die er vorläufig täglich zu bringen auftrug, bis er Bescheid gab:
Aufgepaßt!
Der Herr, der Donnerstag vormittag, den Zwölften dieses, sich vergebens bemühte, den Agenten Jaerven in seinem Kontor zu sprechen, möge die Liebenswürdigkeit haben, seine Adresse in einem Brief an die Expedition bekanntzugeben unter der Chiffre »Von höchster Wichtigkeit«.
*
Asbjörn Krag suchte nun den Chef des Sicherheitsbureaus auf, um mit ihm zu besprechen, was weiter zu tun sei.
Der Chef war jedoch nicht zugegen, so daß Krag eine halbe Stunde im Kontor sitzen und auf ihn warten mußte.
Unterdessen grübelte er wieder über die Sache nach, und er war bald mit sich einig, daß hier ein düsteres und unheimliches Verbrechen vorliegen mußte. Gleichzeitig sagte er sich selbst, daß die Entdeckung des Verbrechens besondere Schwierigkeiten bieten würde. Vorläufig fehlte noch jeder Anhaltspunkt.
III.
Die eiserne Kasse
»Nun, wie geht es?« fragte der Chef, als er das Kontor betrat.
»Vorläufig habe ich nicht den geringsten Faden,« antwortete Krag.
Der Detektiv bemerkte, daß sein Vorgesetzter etwas nervös war. Er trat ans Fenster und sah hinaus. Krag blieb an dem grünen Tisch sitzen.
»Verbrechen?« fragte der Chef wieder und legte eine vielsagende Betonung auf das Wort.
»Wahrscheinlich.«
»Mord?«
»Wahrscheinlich.«
»Und nicht ein Faden? Nicht ein Lichtstrahl?«
»Vorläufig nicht, soweit ich sehen kann.«
»Ja, da sind wir aber wieder übel daran, Herr Krag; wenn jetzt diese Affäre so rasch nach der unaufgeklärten Sache mit dem Diamantenhalsband kommt, werden die Blätter schön über uns herfallen. Wie ist das Skelett?«
(Das Skelett ist der Fachausdruck, mit dem die Detektive die Tatsachen bezeichnen, die bei Beginn einer Sache vorliegen.)
Asbjörn Krag erwiderte:
»Was ich bis jetzt gesammelt habe, ist ganz minimal, und dabei ist es nicht einmal ausgemacht, ob die verschiedenen Glieder zusammengehören.
Am Elften bekommt Jaerven einen Brief, in dem er aufgefordert wird, am selben Abend den Briefschreiber an einem Ort zu treffen, der näher als die Höhle bezeichnet wird. Jaerven sollte zu diesem Zusammentreffen den »kleinen Blauen« mitbringen. Mit dem kleinen Blauen ist sicherlich ein Papier gemeint, vermutlich ein Wechsel.
Der Wucherer ging auch ganz richtig an diesem Abend aus, was er nach Aussage seiner Hauswirtin sonst nie zu tun pflegte. Gegen Mitternacht kam er wieder und begab sich dann gleich zur Ruhe. Am nächsten Tage schloß er sich ein; niemand durfte zu ihm herein, obwohl mehrere draußen waren und an die Türe trommelten. Erst um acht Uhr abends ging er fort, und die Wirtin sah ihn durch das Fenster, das auf die Treppe geht.
Seither ist er verschwunden.
Es scheint mir ganz ausgeschlossen, daß er sich umgebracht hat. Dazu hatte er keinen Anlaß.
Ganz unmöglich ist es, daß er durchgebrannt ist.
Folglich kann sein totales Ausbleiben in nichts anderem seinen Grund haben, als daß er aus dem Wege geräumt ist. Der Wucherer Jaerven gehört wohl nicht mehr zu den Lebenden.«
Der Polizeichef hatte aufmerksam und schweigend die Erklärung seines tüchtigsten Beamten angehört. Hie und da nickte er, um kundzugeben, daß er den Folgerungen des Detektivs zustimmte.
Schließlich machte Krag seinem Chef Mitteilung von der Annonce, die er eingerückt hatte. »Die Annonce sollte ins Abendblatt kommen,« sagte er, »vermutlich ist sie schon gelesen, und wenn der Betreffende ein reines Gewissen hat, können wir ihn recht bald erwarten.«
Der Detektiv hatte kaum zu Ende gesprochen, als das Telephon klingelte. Es war die Zeitungsexpedition.
»Der