Immerhin wusste er, dass der Mann in ungefähr diese Richtung gegangen war. Er setzte sich wieder in Bewegung und passte besser auf, wohin er trat. Der Sumpf war wirklich ein tückischer Ort. Der mitternächtliche Herumschleicher musste schon oft hier gewesen sein, dass er so problemlos an all den Gefahren vorbeiging. Matthew nahm an, dass sich der Mann die sicherste Route aufgezeichnet und auswendig gelernt haben musste.
Nach drei oder vier weiteren Minuten konnte Matthew noch immer keine Bewegung in der Dunkelheit entdecken. Er warf einen Blick zurück und sah, dass sein Weg ihn um eine Landspitze herumgeführt hatte. Zwischen ihm und dem Wachturm, der jetzt wohl mehr als eine Meile entfernt war, lag ein schwarzer Waldstreifen aus Kiefern und Sumpfeichen. Vor ihm erstreckte sich nur noch mehr Sumpf. Er versuchte sich zu entscheiden, ob er umdrehen oder weitergehen sollte. Hier draußen war alles undurchdringlich schwarz und finster – was konnte er schon erreichen? Ein paar Schritte ging er trotzdem noch, und hielt dann an, um den Horizont zu betrachten. Mücken tanzten ihm um die Ohren, waren auf der Suche nach Blut. Im Schilf quakten Frösche. Von einem anderen Menschen war keine Spur zu sehen.
Warum trieb sich jemand hier herum? Zwischen Matthews Fußabdrücken und der Stadt Charles Town ließ sich in dieser trostlosen Wildnis kaum eine einzige zivilisierte Menschenseele finden. Was also wollte diese geheimnisvolle Gestalt hier?
Matthew schaute zu den Sternen empor. Der Himmel war so endlos und der Horizont so weit, dass man sich fürchten konnte. Das Meer war wie ein eigener, finsterer Kontinent. Als er so an diesem Küstenstreifen stand, die unerforschte Welt in seinem Rücken, wurde Matthew bange. Es war, als würden sein inneres Gleichgewicht und sein Platz auf dieser Erde von der endlosen Weite herausgefordert. Plötzlich verstand er, warum Menschen das Bedürfnis hatten, Dörfer und Städte zu bauen und sie mit Palisaden zu umringen: Es war nicht nur, um sich vor den Indianern und wilden Tieren zu schützen, sondern auch, um sich die Illusion von Kontrolle in einer Welt zu erhalten, die zu groß war, um gezähmt zu werden.
Dann wurde er aus seinen Gedanken gerissen. Auf dem Meer blinkten zweimal zwei Lichter auf.
Matthew hatte gerade wieder nach Fount Royal zurückgehen wollen, aber jetzt blieb er wie angewurzelt stehen. Ein paar Sekunden verstrichen. Dann blinkten die beiden Lichter erneut.
Was als Nächstes passierte, brachte Matthews Herz fast zum Stocken. Keine fünfzig Meter von ihm entfernt tauchte eine helle Laterne auf, die in die Luft gehoben wurde. Die Laterne schwankte hin und her, und verschwand mit einem Mal. Matthew vermutete, dass der rätselhafte Mann sie unter seinem Mantel verbarg, und dass er sich zuvor hingekauert haben musste, um ein Streichholz und dann die Kerze anzuzünden. Oder dass er das unter seinem Mantel gemacht hatte. Wie auch immer – er hatte damit auf das Lichtsignal vom Meer geantwortet.
Vorsichtig duckte Matthew sich ins Sumpfgras, bis er gerade noch etwas sehen konnte. Er wollte näher ans Geschehen heran und begann, sich leise und wachsam auf die Stelle zuzubewegen, an der die Laterne aufgeleuchtet hatte. Ihm schoss der Gedanke durch den Kopf, dass er, falls er in dieser geduckten Stellung auf eine Giftschlange treten sollte, in eine äußerst sensible Stelle gebissen werden würde. Er konnte sich dem Mann im dunklen Mantel bis auf dreißig Fuß nähern. Dann war er gezwungen anzuhalten, weil das hohe Gras dort aufhörte. Der Mann stand auf festem Sand, nur ein paar Meter von den schäumenden Wellen des Atlantiks entfernt. Er wartete auf irgendetwas. Sein Gesicht war dem Meer zugewandt, seine Laterne unter dem Mantel versteckt.
Auch Matthew wartete. Nach ungefähr zehn Minuten, während derer der Mann ungeduldig hin und her ging, ohne sich weit von seinem Standposten zu entfernen, konnte Matthew einen schemenhaften Umriss auf dem dunklen Meer ausmachen. Erst kurz bevor es das Ufer erreichte, erkannte Matthew, dass es sich um ein schwarz oder dunkelblau gestrichenes Ruderboot handelte. Drei Männer waren an Bord, alle in dunkle Sachen gekleidet. Zwei von ihnen sprangen in die Brandung und zogen das Boot an den Strand.
Matthew wurde klar, dass das Ruderboot von einem größeren Schiff weiter draußen auf dem Meer gekommen sein musste. Ich habe den Spitzel der Spanier gefunden, dachte er.
»Seid gegrüßt!«, rief der Mann, der im Ruderboot geblieben war – und der sich alles andere als spanisch anhörte, sondern vielmehr so, als stammte er aus Gravesend, England. Er kletterte aus dem Boot auf den Sandstrand. »Wie geht's?«
Der nächtliche Wanderer aus Fount Royal antwortete mit so leiser Stimme, dass Matthew kein einziges Worte ausmachen konnte.
»Sieben diesmal«, meinte der Ruderbootpassagier. »Das sollte Euch reichen. Schafft sie raus!« Der Befehl richtete sich an die beiden anderen Männer, die nun etwas, das wie Holzeimer aussah, aus dem Boot zutage förderten. »Gleiche Stelle?«, fragte er den Mann aus Fount Royal, der daraufhin nickte. »Ihr seid ein richtiges Gewohnheitstier, was?«
Der Mann holte die Laterne aus seinem Mantel, und im gelben Kerzenschein konnte Matthew sein Profil erkennen. »Ich bin ein Mann mit guten Gewohnheiten«, erwiderte der Stadtverwalter Edward Winston streng. »Hört auf zu schwätzen – vergrabt das, und fertig!« Er senkte die Laterne, mit der er dem anderen Mann zu verstehen gegeben hatte, dass ihm nicht nach trödeln zumute war.
»Gemach, gemach!« Der Mann langte ins Boot und holte zwei Schaufeln heraus, mit denen er bis zu der Stelle den Strand überquerte, an der das hohe Sumpfgras begann. Kaum fünfzehn Fuß von Matthew entfernt, an einer Stelle, an der stachelige Sägepalmen wuchsen, blieb er stehen. »Hier wollt Ihr sie haben?«
»Das passt schon«, sagte Winston, der ihm gefolgt war.
»Bringt sie rüber!«, befahl der andere seinen Männern. »Und zwar flott, wir haben nicht die ganze Nacht Zeit!« Die anscheinend versiegelten Eimer wurden an die Stelle bei den Palmen gebracht. Der Ruderbootpassagier gab den Männern die Schaufeln, die auch sogleich zum Einsatz kamen.
»Ich weiß, wo noch eine dritte Schaufel ist«, sagte Winston. »Ihr könntet sie benutzen, Mr. Rawlings.«
»Ich bin doch keine verdammte Rothaut!«, gab Rawlings scharf zurück. »Sondern ein Dieb!«
»Dem möchte ich widersprechen. Ihr seid ein Indianer, und Mr. Danforth ist Euer Häuptling. Ich würde Euch vorschlagen, dass Ihr für das Geld von ihm auch einen Handschlag leistet.«
»Die paar Münzen, Sir! Für diese Arbeit heute Nacht ist das äußerst wenig!«
»Je schneller alles vergraben ist, desto schneller könnt Ihr wieder gehen.«
»Wozu überhaupt was vergraben? Wer soll denn schon herkommen und das finden?«
»Sicher ist sicher. Stellt einen Eimer beiseite und vergrabt die anderen. Und zwar ohne Widerworte.«
Rawlings brummelte leise vor sich hin, griff in das Palmengestrüpp und zog eine Schaufel mit kurzem Stiel heraus, die dort versteckt gewesen war. Matthew sah, wie Rawlings im gleichen Rhythmus wie seine Männer zu graben begann. »Und wie ist das jetzt mit der Hexe?«, fragte er Winston während des Schaufelns. »Wann wird sie gehängt?«
»Gehängt wird sie nicht. Sie kommt auf den Scheiterhaufen. Ich denke, in den nächsten Tagen.«
»Damit seid Ihr dann auch fertig, was? Ihr und Danforth!«
»Kümmert Euch besser ums Schaufeln«, fuhr Winston ihn an. »Allzu tief muss es nicht sein, aber es muss gut zugeschüttet werden.«
»Ist ja gut! Macht weiter, Jungs! Wir wollen ja nicht mehr Zeit als nötig in diesem Teufelsland verbringen.«
Winston grunzte. »Ob hüben oder drüben – es ist doch alles Teufelsland, oder?« Er klatschte sich auf die linke Seite seines Halses und erschlug damit einen kleinen Blutsauger.
Es dauerte nicht lange, bis im Sand ein Loch entstand, in welches sechs der Eimer versenkt und gleich darauf zugeschaufelt wurden. Rawlings verstand sich gut darauf, so zu tun, als würde er schwer arbeiten: Sein Gesicht verzerrte sich, sein Atem