»Aber gern«, erwiderte Dr. Bernau. »Ich habe sie in meinem Wagen.«
»Dann holen wir sie«, brummte der Beamte.
»Sollten wir uns nicht besser zuerst um die Frau …?« Dr. Bernau sprach nicht weiter, als er sah, dass die Unbekannte zu sich gekommen war, und dass der zweite Polizist ihr auf die Beine half.
»Wie Sie sehen, kümmert sich mein Kollege bereits darum«, schnarrte der jüngere Gesetzeshüter. »Also – Ihre Papiere jetzt!«, befahl er.
Dr. Bernau zuckte mit den Schultern und schritt zu seinem Wagen. Der Beamte wich nicht von seiner Seite. Aus den Augenwinkeln heraus bemerkte er nur, dass der zweite Polizist sich mit der jungen Frau beschäftigte und ihr einige Fragen stellte und sich die Antworten notierte.
Schweigend holte Dr. Bernau seine Papiere aus dem Wagen und reichte sie dem Uniformierten. »Hier, bitte …«
Der Polizist prüfte sehr genau. Er schien gar nicht in Eile zu sein. »Hm, mit dem Arzt scheint das ja zu stimmen«, meinte er nach einer Weile. »Aber deshalb würde …« Er unterbrach sich und blickte sich um, als in diesem Augenblick ein Motor aufheulte. Es war der des Fiat, in dem die junge Frau wieder Platz genommen hatte, die nun ihren Wagen mit Vollgas aus dem Straßengraben heraus wieder in Fahrtrichtung brachte und dann in Normalgeschwindigkeit davonfuhr.
»Sie lassen die Frau weiterfahren?«, stieß Dr. Bernau verwundert hervor.
»Warum denn nicht?«, fragte der zweite Polizist, der näher getreten war.
»Nun, es könnte doch sein, dass …«, Dr. Bernau sah die beiden Polizisten abwechselnd an, »… dass die Frau krank ist. Immerhin war sie ja bewusstlos, als ich sie vorhin fand.«
»Sie fühlt sich schon wieder wohl und ist meiner Meinung nach durchaus fahrtüchtig«, erklärte der ältere der beiden Polizisten ruhig.
»Sie haben es gehört, Herr Doktor«, brummte der jüngere Beamte.
»Wirklich ein Doktor?«, fragte der andere.
Sein Kollege nickte und reichte Dr. Bernau die Papiere zurück. »Was ist mit der Frau?«, wandte er sich an den Kollegen.
»Sie heißt Christine Häußler, wohnt in Schliersee und leitet in Rottach das Kinderferienheim«, kam die Antwort. »Es war kein Unfall, wie sie mir erklärte. Ihr war nicht gut, und als sie merkte, dass sie ohnmächtig zu werden drohte, fuhr sie ihren Wagen zur Seite und ist dabei eben ein wenig in den Graben gerutscht. Ich habe alles notiert.«
Dr. Bernau hatte alles mitgehört. Damit war für ihn der Fall eigentlich erledigt. »Sie brauchen mich jetzt ja wohl nicht mehr, meine Herren«, sagte er und sah auf die Uhr.
Der jüngere Beamte verzog das Gesicht. »Tja, ein Protokoll sollten wir ja aufnehmen«, meinte er. »Entweder gleich hier oder Sie kommen mit zur Station. Ordnung muss sein, und ich muss ja den Bericht …«
»Ein Protokoll? Wozu?«, begehrte Dr. Bernau auf. Ihm brannte die Zeit unter den Fingernägeln. Er wusste, dass er sich verspäten würde, wenn die beiden Gesetzeshüter ihn noch länger hier festhielten. »Es ist doch nichts passiert, wie Sie ja selbst festgestellt haben.«
»Mag sein, aber wir sind im Dienst, im Streifendienst, Herr Doktor, und müssen einen korrekten Bericht abgeben.«
»Aber ich muss in die Klinik am See«, fuhr Dr. Bernau auf. »Ich werde bei einer Operation erwartet. Sie können und dürfen mich nicht länger für nichts und wieder nichts hier festhalten.«
»Haben Sie eine Ahnung, Herr Doktor, was wir können und dürfen …«
Fast zwei Minuten dauerte dieses Wortgeplänkel noch, als endlich der ältere der beiden Polizisten – er schien jedenfalls der besonnenere zu sein – den Schlusspunkt setzte.
»Lassen wir ihn doch weiterfahren«, meinte er zu seinem jüngeren Kollegen, der anscheinend der Streifenführer war. »Seine Personalien kennst du ja.«
»Also meinetwegen«, gab sich der Angesprochene großzügig. »Fahren Sie in Gottes Namen weiter, damit Sie in Ihre Klinik kommen.«
*
Schon zum dritten Mal blickte Dr. Hoff nach der elektrischen Uhr an der Wand des Wasch- und Vorbereitungsraumes, während er seine Hände und Unterarme schrubbte. Er verstand nicht, wo Dr. Bernau blieb, der ihm bei der in wenigen Minuten angesetzten Operation assistieren sollte. »Nichts gehört und gesehen von Doktor Bernau?«, fragte er die OP-Schwester, die eben den Raum betrat, um dem Chirurgen in den sterilen OP-Kittel zu helfen.
»Nein, Herr Doktor«, kam die bedauernde Antwort. »Er ist noch nicht in der Klinik.«
Unwillig verzog Dr. Hoff das Gesicht. Dr. Bernaus Abwesenheit gefiel ihm gar nicht. »Er weiß doch, dass der Eingriff auf neun Uhr angesetzt ist«, murmelte er.
»Wir sind so weit«, meldete in diesem Augenblick Schwester Sylvia, die den anderen OP-Schwestern vorstand, durch die leicht geöffnete Flügeltür zum OP. »Herr Doktor Reichel hat die Narkose schon eingeleitet. Die Patientin ist bereit«, setzte sie hinzu und zog sich sofort wieder zurück.
Dr. Hoff brummte unwillig vor sich hin. Er überlegte, ob er nun mit dem Eingriff beginnen oder noch ein paar Minuten warten sollte, hoffend, dass Dr. Bernau doch noch in letzter Minute erschien. Ohne Assistenz konnte er den Eingriff gar nicht vornehmen.
Die Schwester, die ihm in den OP-Kittel half, schien die Überlegungen des Chirurgen zu erraten. »Sollen wir vielleicht Doktor Köhler oder Frau Doktor Westphal verständigen?«, fragte sie leise. »Die können Ihnen doch auch assistieren, wenn Doktor Bernau nicht kommt.«
»Das werden wir wohl müssen«, erwiderte Dr. Hoff und sah nach der Uhr. Sekundenlang dachte er nach und entschloss sich dann, dem Vorschlag der Schwester zu folgen. »Ja, rufen Sie …« Er sprach nicht aus, was er sagen wollte, denn in diesem Augenblick betrat der Chefarzt den Raum.
»Ich wollte nur …«, begann Dr. Lindau zu sprechen, unterbrach sich aber und sah den Chirurgen etwas verwundert an. »Nanu, eine Verzögerung«, sagte er. »Die Operation war doch für neun Uhr angesetzt, wenn ich mich nicht irre.«
»Kein Irrtum«, erwiderte Dr. Hoff. »Es gibt tatsächlich eine Verzögerung.«
»Komplikationen?«, warf Dr. Lindau fragend ein. »Mit der Narkose?«
Dr. Hoff schüttelte den Kopf. »Die Patientin liegt bereits in Narkose«, klärte er den Chefarzt auf. »Aber ohne Assistent kann ich nicht beginnen.«
»Doktor Bernau war doch dazu eingeteilt«, meinte Dr. Lindau und hob erstaunt die Augenbrauen an. »Wo ist er eigentlich?«, fragte er.
»Keine Ahnung«, gab Dr. Hoff zurück. »Jedenfalls ist er noch nicht aufgetaucht. Ich wollte eben den Kollegen Köhler rufen lassen.«
Die Stirn des Chefarztes umwölkte sich. Blitzschnell überlegte er. »Der ist beschäftigt«, stieß er hervor. »Ich komme gerade von der Station. Es würde zu lange dauern, bis er hier und einsatzbereit ist«, fuhr er fort, sah auf die Uhr und wandte sich an die im Hintergrund abwartend stehende Schwester. »Bringen Sie mir Kittel und Haube!«, befahl er, streifte seinen weißen Mantel ab und begann auch schon mit dem Schrubben seiner Hände und der Unterarme.
Wenig später begann Dr. Hoff mit der Operation, bei der ihm der Chefarzt assistierte.
Das war fast im gleichen Augenblick, als Dr. Bernau den Vorbereitungs- und Waschraum betrat. »Wo ist Doktor Hoff?«, fragte er die im Raum anwesende Schwester schwer atmend, entledigte sich seines weißen Mantels, den er sich kurz vorher noch übergestreift hatte und begann sich zu waschen.
»Herr Doktor Hoff hat vor wenigen Minuten mit dem Eingriff begonnen«, erwiderte die Schwester.
»Wie bitte?« Dr. Bernau fuhr herum. »Ohne Assistenz?«
»Der Chefarzt assistiert, weil Sie nicht da waren …«