Stanislaw Przybyszewski: Romane, Erzählungen & Essays. Stanislaw Przybyszewski. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Stanislaw Przybyszewski
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788027205639
Скачать книгу
prüfte, aber er konnte wirklich nicht unterscheiden. Er hatte so viele Pläne geschmiedet, wie er sie erobern könnte, so viele Worte sich selber vorgesprochen, so viele Gefühle erdichtet und erlogen, daß er nicht mehr unterscheiden konnte, was echt daran und was – hm, ja, wie sollte er es nennen – künstliches Wachstum war.

      Die Suggestionen, mit denen er auf sie einwirken wollte, wurden zu Realitäten, oder sie nahmen wenigstens die Formen realer Gefühle an. Die Worte, die er früher mit dem Gehirne erfunden hatte, bekamen jetzt geschlechtliche Wärme: er hatte so oft Gefühle gespielt, bis er sie tatsächlich in sich erzeugt hatte.

      Ihm kam es vor, als hätten sich gewisse Gehirnstellen einen neuen Blutumlauf geschaffen. Warum denn komme sein Herz in diese Zuckungen, wenn er jetzt Liebesworte wiederholte, die er früher kaltblütig ohne die geringste Spur von seelischer Erregung hundertmal gesprochen hatte?

      Falk verlor sich in psychologische Untersuchungen über die Form einer Liebe, die durch Autosuggestion erzeugt werde.

      Er dachte nach, wie er sie schildern würde. Ja, er könne an nichts anderes denken, er müsse sein Gehirn beruhigen.

      Also: er habe einen Auftrag von einer psychologischen Zeitschrift, ja. Zeitschrift für wissenschaftliche Psychologie. Wie werde er es nun klar machen?

      Nun: ein oft wiederholter, im Gehirne wiederholter Zustand hat sich mit neuen Blutbahnen verknüpft, auf diese so lange eingewirkt, daß ein regelmäßiger Blutumlauf entstanden ist, und so wurde der Gedankenzustand zu einem sinnlichen Zustande.

      Ja so; das würde wohl stimmen. Es wurde ein sinnlicher Effekt durch reine Gedankensuggestion erzeugt.

      Er hörte einen Wagen dicht an ihm vorbei rollen. An den Seiten brannten Laternen, und er sah, wie der Wagen an einer scharfen Straßenkrümmung umbog. Dann sah er nur noch die Lichter sich in schnellem Laufe weiter bewegen; er verfolgte sie, bis sie in dem Wald verschwanden. Unwillkürlich mußte er an die Irrlichter des Torfstechers denken.

      Dann sah er sich um. Dort lag Marits Haus. Ja, er könnte hineingehen. Vielleicht erwartete sie ihn. Vielleicht würde sie sehr glücklich sein, wenn er jetzt so plötzlich erschiene. Vielleicht geht sie im Park herum, um sich abzukühlen. Oder ist an den See gegangen, um sich auf den großen Stein zu setzen, auf dem sie Beide so oft zusammen saßen, ja; dicht an dem Graben, an der Schlucht, wo der Boden ringsherum so tief aufgerissen war.

      Merkwürdig diese Schlucht; ob das wohl ein altes Flußbett sein könnte?

      Nun ging er; blieb stehen; ging wieder. Sein Gehirn war sehr ermüdet; und doch diese eigentümliche Tendenz zu grübeln!

      Wieder dachte er an den psychologischen Aufsatz.

      Nein, das ließe sich wohl besser für eine Novelle verwerten. Also: der Mann hat diese autosuggestive Liebe. Bien, gut! Nun aber hat er nebenbei noch eine wirkliche Liebe, die er beständig fühlt, ja ganz so, wie man ein krankes Organ in seinem Körper fühlt.

      Er liebt also gleichzeitig, das heißt er liebt beide. Nur: die eine ist zuerst ins Individuelle getreten und trat später ins Gehirn, die andre hat den umgekehrten Weg genommen, und das Urewige in unserm Helden fingt allmählich heftig an zu reagieren.

      Ja, Falk fühlte deutlich, wie es reagierte; aber gleichzeitig empfand er eine große, satte Müdigkeit.

      Jetzt war ihm Marit wieder ganz gleichgültig; nur ein Vorschmack des Geschlechtes, und schon war er satt.

      Morgen werde freilich eine Reintegration eintreten; aber es war eine unleugbare Tatsache, daß er sich heute Abend, ja, heute Abend den 28. April satt fühle.

      Also liebte er Marit nicht, denn dieses Gefühl hatte er niemals bei seiner Frau empfunden. Nein; niemals.

      Ja, und die ganze Zeit nach der Umarmung vorhin: Er hatte deutlich gefühlt, wie eine Art Ha?, Scham, ja, Scham, wie nach einem Verbrechen, Scham vor sich selbst und vor ihr, zwischen ihnen hin- und herwogte.

      War es Glück?

      Nein!

      War es Schmerz?

      Ja, ganz gewiß: Schmerz und Scham! Aber die echte, die nicht suggerierte Liebe, die Liebe, die entsteht, weil sie entstehen muß, die Liebe, die kein Gehirn hat, kein Denkorgan, nur zwei Herzbeutel und eine Aorta, diese Liebe kennt keine Scham.

      Nein, gewiß nicht! Er dachte an sein Liebesverhältnis zu seiner Frau. Sie nahmen sich, weil sie sich nehmen mußten, und waren glücklich. – Was ist es also?

      Ja, was ist es?

      Nun, bitte, Herr Erik Falk: Sie sind Angeklagter und Ankläger zugleich. Sie sind Herr Falk und Herr X.

      Also, Herr X, Sie beschuldigen mich, daß ich ein Mädchen verführt und somit zerstört habe.

      Nun hören Sie: Sie sind ein intelligenter Mensch, und ich kann vor Ihnen mit einem Arsenal von Gründen vorfahren.

      Also: Hors la methode point de salut. Methodisch und systematisch, Herr X!

      Primo entstand in mir die Suggestion, daß ich dies Mädchen besitzen muß. Da nun eine ähnliche Suggestion niemals vorher in mir entstanden ist, so muß ich sagen: Diese Suggestion ist eine außergewöhnliche, und in Folge dessen verdient sie eine ganz besondere Aufmerksamkeit.

      Falk untersuchte pedantisch, ob er etwas nicht exakt genug präzisiert habe.

      Ja, es ist also eine außerordentliche Suggestion. Wie sie entstanden ist, weiß ich nicht. Ich kann nämlich tausend Dinge nennen, die sie erzeugt haben mögen; ich nenne sie zuweilen auch, aber ich weiß, daß mein Gehirn mich belügt, daß ich sozusagen der Hahnrei meines Gehirnes bin, und so sage ich: den Ursprung dieser Suggestion kenne ich nicht. Ich vermag nur ihren Charakter zu erkennen: sie ist eine geschlechtliche Suggestion. Sie war es von Anfang an ...

      Falk dachte an eine Reihe von Gefühlserlebnissen, die in dieser Richtung lagen.

      Zuerst am dritten Tage ihrer Bekanntschaft: Sie war auf dem Bahnhof gewesen, um einen eiligen Brief in den Kasten des Zuges zu werfen. Er hatte sie in der Stadt getroffen, ja, an dem Eckhause, in dem der Uhrmacher wohnt. Sie wurde verlegen und er auch. Warum wurde er verlegen? Er hatte sich gleich erstaunt danach gefragt. Dann begleitete er sie und sprach viel; ja, worüber sprach er doch gleich? Richtig, über Religion.

      – Halt, da liegt ein wichtiges Argument!

      Herr X, bitte, können Sie mir sagen, warum ich gleich von Anfang an, ohne ein klares Bewußtsein des Endzweckes, mich drauf kapriziert habe, ihre religiösen Dogmen zu zerstören?

      Ja, bitte sehr, sie kennen mich doch und wissen, daß es mir absolut gleichgültig ist, ob ein Mensch glaubt oder nicht. Sie wissen auch, daß ich selten von meinen Ideen spreche, weil ich es als unfein betrachte, Suggestionen aufzudrängen.

      Nun sehen Sie, Herr X, bevor ich dessen bewußt war, arbeitete schon mein Geschlecht mit folgerichtiger Logik in mir und argumentierte so: So lange sie Religion hat, werde ich sie niemals besitzen, folglich ist das Religiöse in ihr der erste und wichtigste Angriffspunkt.

      Sie können mir wirklich glauben, Herr X, ich kann Ihnen versichern, daß ich nicht einen Augenblick dran dachte, das Mädchen zu besitzen, bevor ich nicht an jenem Tage die Stimme des Blutes zu hören bekam.

      Sehen Sie, es war grade am Kirchhof, dicht unter der Birke, deren Zweige über den Zaun hängen, da merkte ich plötzlich – es mag wohl etwas Persönliches in meine Rede gekommen sein – wie meine Stimme eine sonderbare Tendenz bekam, ins Flüstern, ins vertrauliche Raunen umzukippen, und dann fühlte ich ein eigentümliches Glühen um meine Augen, und die Haut unter den Augen fühlt ich sich in kleine Fältchen legen, wodurch der Ausdruck meiner Augen etwas faunhaftes bekommt.

      Dies letzte fühlt ich deutlich, weil ich diese Fältchen zuerst bei meinem Vater gesehen habe, als er sich in unsre Gouvernante verliebte. Ich habe sie dann ganz vergessen, bis ich sie mal plötzlich vor drei Jahren in einer Art Vision wieder deutlich vor mir sah. Seitdem denk ich immer an sie.

      Ja, nun wußte ich bestimmt: es ist das Geschlecht.

      Und