»Ich glaube, Micki Luftballon ist ein Waisenkind«, behauptete Nick. »Wir haben sie nach ihrer Mami oder Mutti oder Mama gefragt. Sie schien gar nicht recht zu verstehen, was wir meinten. Genauso ging es mir, als ich von einem Papi redete. Sie findet es in Sophienlust herrlich und will nicht mehr weg, weil so viele Kinder da sind«, beendete Nick nun seinen Bericht.
»Wir behalten das Kind selbstverständlich, falls sich keine Angehörigen finden sollten. Aber ich denke immer noch, dass wir der Sache auf den Grund kommen. Leider ist ein blauer Luftballon kein sehr gutes Erkennungszeichen.« Denise nickte ihrem Jungen zu. »Danke, Nick. Ich glaube, du hast mehr herausgefunden, als uns gelungen wäre.«
Nick setzte ein befriedigtes Gesicht auf. »Das war nichts Besonderes, Mutti. Außerdem hat mir Pünktchen geholfen. Sie findet, dass Micki aussieht wie eine Puppe.«
»Da hat sie so unrecht nicht. Es ist ein besonders niedliches kleines Ding«, sagte Denise fröhlich. »Was mich beschäftigt, ist die Tatsache, dass Micki Luftballon gut genährt und in tadellosem Gesundheitszustand ist. Man hat sie also gewiss nicht vernachlässigt oder schlecht behandelt. Dazu passt die Sache mit der bösen Tante nun wieder gar nicht.«
»Aber Micki würde nicht schwindeln«, wandte Nick ein. »Dazu ist sie noch viel zu klein.«
»Stimmt«, pflichtete Alexander ihm bei. »Die gleiche Überlegung habe ich bereits angestellt, als ich sie mitnahm.«
»Kommt morgen die neue Dame?«, wollte Nick nun wissen. »Das Zimmer ist heute schon geschrubbt worden. Sogar neue Gardinen hat Carola aufgehängt.«
»Ja, Frau von Rettwitz wird wohl morgen im Lauf des Tages eintreffen. Ich wollte mit dir darüber reden, Nick«, äußerste Denise etwas zögernd.
»Ist was Besonderes mit ihr?« Mit wacher Aufmerksamkeit richteten sich die dunklen Augen des Jungen auf seine Mutter.
»Sie hat etwas sehr Trauriges erlebt. Ihre kleine Tochter ist gestorben. Nun wollen wir versuchen, sie in Sophienlust wieder ein bisschen froh zu machen.«
Nicks hübsches Jungengesicht war ernst geworden. »Ich sag’s den anderen, Mutti. Vielleicht mag die Dame Tiere gut leiden. Pünktchen und Isabel könnten mit ihr zu Andrea fahren. Das Tierheim Waldi & Co. ist doch interessanter als ein Zoo.«
»Sicher ist das eine gute Idee, Nick. Wir hoffen sehr, dass Frau von Rettwitz unter den Kindern von Sophienlust wieder fröhlich wird.«
Nick rieb sich schon wieder die Nase und seufzte dazu. »Sie kriegt bei uns vielleicht aber auch neue Sehnsucht nach ihrem eigenen Kind«, orakelte er. »Oder sie nimmt eins mit. Ja, natürlich, so wird es enden. Es ist immer dasselbe. Irgendwann gehen unsere Kinder fort.«
Das war das Einzige, was Nick hin und wieder an Sophienlust störte. Er nahm leidenschaftlich gern neue Kinder auf, aber er trennte sich nur schwer von ihnen. Dennoch hatte er längst eingesehen, dass es für so manches Kind ein großes Glück bedeutete, in einer richtigen Familie zwischen liebenden Eltern eine bleibende Heimat zu finden.
»Möglich wäre es schon, dass Frau von Rettwitz später ein Kind adoptieren möchte. Im Augenblick ist jedoch nicht daran gedacht, Nick. Du schaust weiter in die Zukunft als unsere gute Huber-Mutter.«
Denise hatte die alte Kräuterfrau in Sophienlust aufgenommen. Die Huber-Mutter bewohnte ein schönes Zimmer und war für die Kinder eine sagenumwobene Gestalt, der sie geheimnisvolle Kräfte zutrauten und die sie dennoch liebten wie eine gute Großmutter.
Ob sie tatsächlich das Zweite Gesicht besaß, ließ sich weder beweisen noch widerlegen, obwohl Nick Stein und Bein schwor, dass es so sei. Gewiss aber verstand sich die Huber-Mutter auf das Sammeln von heilkräftigen Pflanzen aller Art, aus denen sie Tees zubereitete. Sogar der Drogist in Bachenau bezog regelmäßig gewisse Kräutermischungen von ihr. Und im Dorf sowie in der weiteren Umgebung von Sophienlust gab es eine Menge Leute, die die Heiltränklein der Huber-Mutter den Medikamenten des Arztes vorzogen.
»Ich kann ja die Huber-Mutter mal fragen, wenn Frau von Rettwitz da ist«, erklärte Nick.
»Lass das lieber, Nick. Du weißt, dass die alte Frau neugierige Fragen nicht besonders mag.«
»Hm, aber vielleicht weiß sie wenigstens, woher Micki Luftballon gekommen ist, Mutti.«
»Es wird sich herausstellen, mein Junge. Die Kleine ist jetzt in guter Hut. Das scheint mir das Wichtigste zu sein.«
Nick verzog sich. Denise aber sagte zu ihrem Mann, indem sie sich gegen seine Brust lehnte: »Ein klein wenig fürchte ich mich vor morgen, Liebster. Wenn Frau von Rettwitz echte Depressionen hat, werden sich die Kinder von ihr fernhalten. Möglicherweise wird sie durch unsere Kinder tatsächlich an ihr eigenes Töchterchen erinnert. Da hat Nick gar nicht so unrecht.«
»Sophienlust hat eine heilsame Luft, Liebste.« Zärtlich küsste Alexander seine Frau. »Warum bist du plötzlich so verzagt?«
»Sie tut mir schrecklich leid, Alexander«, gestand Denise. »Das einzige Kind zu verlieren, muss entsetzlich sein. Ich wage es gar nicht, mir einen solchen Schmerz auszumalen. Henrik zum Beispiel – ich fürchte, ich würde dann den Verstand verlieren.« Sie schlug die Hände vors Gesicht, als wollte sie das Bild nicht einmal in Gedanken sehen.
»Du wirst der unglücklichen Mutter schon einen neuen Weg zu zeigen wissen, Denise. Es wäre nicht das erste Mal.«
Denise ließ sich umarmen und küssen. Dankbar empfand sie die Wärme und Geborgenheit, die Alexander ihr immer wieder gab. Dennoch sah sie dem kommenden Tag mit Bangen entgegen.
*
»Die Landschaft ist hübsch, Isolde.«
»Ja, Achim.« Die junge Frau saß neben ihrem Mann im Wagen und antwortete rein mechanisch, ohne einen Blick auf die Umgebung zu werfen.
Die beiden hatten ihr Ziel schon fast erreicht. Eben tauchte das Sophienluster Herrenhaus zwischen den Bäumen auf.
»Sieh mal, das Gebäude dort wirkt fast wie ein Schloss. Das muss es sein.«
»Ja, Achim.« Es hörte sich an wie die eingelernte Antwort eines gehorsamen Kindes.
Achim von Rettwitz empfand Mitleid mit seiner Frau. Er wusste genau, dass sie ihre Zusage inzwischen am liebsten rückgängig gemacht hätte.
Wenig später fuhr er vor dem Herrenhaus vor. Es war Sonntagnachmittag und sehr still. Zuerst hatte es den Anschein, als habe niemand den Wagen bemerkt. Achim wollte eben aussteigen, um zu läuten, als sich die Tür des Hauses öffnete und ein schlanker Junge mit dunklem Haar und dunklen Augen heraustrat. Ohne zu zögern kam er auf das Auto zu und verbeugte sich höflich.
»Willkommen in Sophienlust. Ich bin Dominik von Wellentin-Schoenecker. Meine Mutti erwartet Sie schon. Sie sind doch Herr und Frau von Rettwitz?«, vergewisserte er sich.
Achim half Isolde beim Aussteigen. Nick nahm zuerst ihre Hand, dann die ihres Mannes. Sein hübsches offenes Gesicht drückte deutlich Verwunderung aus.
»Ich zeige Ihnen den Weg«, erbot er sich. »Mutti ist im Biedermeierzimmer.«
»Danke, Dominik.«
Achim bot seiner Frau den Arm. Nick warf Isolde noch einen langen Blick zu, ehe er die Haustür öffnete und den Besuchern den Weg zum ehemaligen kleinen Salon seiner Urgroßmutter wies, jenem Raum, in dem alles unverändert geblieben war wie zu Lebzeiten Sophie von Wellentins.
Denise empfing das Paar mit weit geöffneten Armen. »Wie schön, dass Sie gekommen sind, Frau von Rettwitz.«
Achim küsste Denise ehrfürchtig die Hand. Zugleich sah er die Herrin von Sophienlust mit einem ähnlich verwunderten Gesichtsausdruck an, wie Nick ihn zuvor beim Anblick seiner Frau gezeigt hatte. Denn Isolde von Rettwitz und Denise von Schoenecker wiesen eine seltsame Ähnlichkeit auf. Isolde hätte ohne Weiteres die jüngere Schwester von Denise sein können. Das sah nun auch Achim von Rettwitz.
»Sag bitte in der Küche Bescheid, dass wir Tee haben möchten, Nick«,