Eben überlegte Denise, ob noch mehr in Sophienlust zu tun sei, als Isabel im Laufschritt in den Park kam. »Tante Isi, Telefon! Tante Ma schickt mich.« Damit meinte das Mädchen Frau Rennert, die von den Heiminsassen, ob groß oder klein, Tante Ma genannt wurde.
Denise eilte leichtfüßig auf das Herrenhaus zu. Dass sie früher einmal Tänzerin gewesen war, ließ sich nicht verleugnen. Ihr Gang wirkte leicht und schwebend, ihre Haltung aufrecht und stolz.
Im Büro reichte ihr Frau Rennert den Hörer. »Maria Berger«, sagte sie dabei.
Maria Berger war eine Verwandte von Frau Rennert. Als Waise war sie einstmals kurz in Sophienlust beheimatet gewesen. Jetzt war sie glückliche Ehefrau von Horst Berger, einem reichen Großindustriellen.
»Was gibt es?«, erkundigte sich Denise.
Maria brachte ihr Anliegen vor, nachdem sie sich zunächst vergewissert hatte, dass es in Sophienlust allen gut ging.
»Natürlich machen wir das, Maria«, antwortete Denise ohne Besinnen. »Wann möchte Frau von Rettwitz denn kommen? Je eher, desto besser. Du weißt ja, dass Sophienlust auch in Not geratenen Erwachsenen Heimstatt sein soll.«
Frau Rennert sah Denise fragend an, als diese schließlich den Hörer niederlegte. »Mir hat sie nichts erzählt, Frau von Schoenecker.«
»Es ist kein Geheimnis, Frau Rennert. Maria wollte es wohl nicht zweimal auseinandersetzen. Sie hat Freunde, eine Familie von Rettwitz, die von einem sehr traurigen Schicksal betroffen worden sind. Ihr einziges Töchterchen Renata ist im Alter von gut zwei Jahren an Hirnhautentzündung gestorben. Das war für die jungen Eltern ein schlimmer Schlag.«
»Schrecklich«, warf die warmherzige Heimleiterin ein. »Aber dann können wir für das Kind doch nichts mehr tun.«
»Nein, nein – es handelt sich um die Mutter, Isolde von Rettwitz. Sie leidet unter schweren Depressionen und kann den Verlust des Kindes nicht überwinden. Ihr Mann verspricht sich nun von einem Milieuwechsel Besserung und Heilung. Außerdem erwägt er, eventuell eines unserer Kinder zu adoptieren. Weitere Kinder kann das Paar nämlich aus Gründen, die mir nicht bekannt sind, nicht haben.«
»Natürlich nehmen wir die Dame gern auf«, erklärte Frau Rennert. »Das Zusammenleben mit unserer fröhlichen Schar wird sie ihre Depressionen sicher bald vergessen lassen.«
Denise nickte nachdenklich. »Hoffentlich, Frau Rennert. Falls es ihr für den Anfang hier in Sophienlust zu lebhaft zugehen sollte, werde ich sie nach Schoeneich einladen.«
Denise reichte der Heimleiterin zum Abschied die Hand und verließ das Herrenhaus von Sophienlust. Als sie schon im Wagen saß, sah sie Nick, der das fremde Kind an der Hand zu den Ponyställen führte. Der blaue Luftballon war wieder einmal mit von der Partie.
Ob ihr Sohn etwas herausfinden würde?
*
Achim von Rettwitz kam etwas abgespannt nach Hause, denn es lagen zwei anstrengende Gerichtsverhandlungen hinter ihm. Er hatte sich als tüchtiger Staatsanwalt bereits einen Namen gemacht. Studium, Beruf, dann seine glückliche Ehe mit Isolde – anfangs war alles im Leben des jungen Juristen nach Wunsch gegangen. Die ersten Sorgen waren gekommen, als Isolde bei der Geburt der kleinen Renata fast ihr Leben eingebüßt hatte. Doch das Schicksal hatte es noch einmal gnädig gemeint. Mutter und Kind waren am Ende gesund gewesen. Die Eröffnung des Professors, dass dem Paar weitere Kinder versagt sein würde, hatte damals kaum eine Bedeutung gehabt.
Renata war der Liebling und Abgott der Eltern geworden. Das Glück war vollkommen gewesen, bis diese tückische Krankheit das Kind hinweggerafft hatte.
Seither hockte Isolde apathisch und ohne Tränen neben dem leeren weißen Bettchen. Seither vernachlässigte sie den Haushalt und auch ihr eigenes Äußeres. Selbst an ihrem Mann schien sie keinerlei Interesse mehr zu haben. Achim gab sich alle erdenkliche Mühe, aber nichts fruchtete. Er schlug eine gemeinsame Reise vor, doch Isolde wollte sich nicht von dem verwaisten Kinderzimmer trennen. Er umgab seine Frau mit Liebe und Rücksichtnahme, aber es war, als bemerke sie gar nichts davon.
Auch an diesem Tag fand er die jetzt übliche Situation vor. Isolde hatte ihr schönes dunkles Haar gewaschen, sich aber nicht einmal die Mühe genommen, es aufzustecken. Wie ein ganz junges Mädchen trug sie es lang bis zur Taille. Achim liebte dieses herrliche Haar. Er beugte sich über seine Frau und legte die Lippen auf ihren Scheitel.
»Guten Abend, Isolde. Du siehst wunderschön aus, weißt du das?«
Sie schaute nicht einmal auf. Starr war ihr Blick auf das leere Bettchen geheftet. Müde hob sie die Schultern. »Was ist denn schön an mir?«
»Dein Haar, Isolde. Die heutigen Teenager würden dich um diese Pracht glühend beneiden.«
Isolde von Rettwitz gab keine Antwort.
Ihr Mann seufzte etwas unterdrückt, doch er ließ sich nicht so rasch entmutigen.
»Wie wäre es, wenn wir gemeinsam ausgingen, Isolde? Oder hast du etwas vorbereitet zum Abend? Heute ist Freitag. Morgen und übermorgen habe ich keinen Dienst.« Er bemühte sich, seiner Stimme einen zuversichtlichen Klang zu verleihen.
»Ich war nicht fort, Achim. Vielleicht ist noch etwas im Kühlschrank. Du weißt, dass ich nichts essen mag.«
Das stimmte. Isolde war seit dem Tod des Kindes erschreckend mager geworden.
»Aber ich möchte essen«, wandte er ein. »Ich hatte heute so viel zu tun, dass ich nicht einmal ins Kasino gekommen bin mittags.«
»Das tut mir leid.« Es war eine gleichgültige, höfliche Bemerkung – mehr nicht.
Vor allem diese Gleichgültigkeit war es, die Achim Sorge bereitete. Wie sollte das weitergehen? Der Arzt, mit dem er sich mehrfach beraten hatte, empfahl einen Milieuwechsel, andere Eindrücke und vielleicht zu gegebener Zeit die Adoption eines Waisenkindes. Aber wie sollte er Isolde aus diesem Zimmer wegbekommen, in dem sie die meisten Stunden des Tages verbrachte, manchmal mit dem Lieblingsteddy der kleinen Renata im Arm?
Der Mann legte die Hände auf die Schultern seiner Frau. Seine Finger verfingen sich in ihrem seidigen, glänzenden Haar. »Komm, Liebste, ich möchte mit dir ausgehen. Du musst dein Haar ein bisschen aufstecken und dich umziehen. Ich kann inzwischen einen Tisch bestellen.«
»Ich will nicht, Achim«, wandte sie tonlos ein. »Geh du allein, wenn du hungrig bist.«
»Nein, Isolde. Allein mag ich nicht gehen.«
Er nahm sie bei den Händen und zog sie in die Höhe, obwohl sie sich sträuben wollte. Liebevoll legte er die Arme um sie und küsste sie. Doch ihre Lippen blieben kühl und gaben die Zärtlichkeit nicht zurück.
Wie anders war es früher zwischen ihnen gewesen. Isolde hatte ihn Abend für Abend ungeduldig an der Tür erwartet und sich stets mit einem Jubelruf an seine Brust geworfen. Wie Kinder hatten sie oft miteinander gelacht und gescherzt.
»Isolde – bitte!« Seine Lippen liebkosten ihren Mund, seine Hände streichelten ihren starren Körper. »Ich liebe dich, Isolde. Du darfst über der Trauer um unsere süße kleine Renata das Leben nicht vergessen«, mahnte er und zog sie noch fester an sich.
»Wir werden nie wieder ein Kind haben, Achim.« Tonlos, mutlos, verzweifelt klang es.
»Aber du bist mir geblieben, Isolde. Werden wir beide nicht die Kraft finden, mit unserem Schicksal fertig zu werden? Unsere Liebe muss stark genug sein.«
»Ich habe keine Kraft mehr, Achim. Aber wenn du darauf bestehst, können wir zusammen essen gehen. Ich bin keine gute Hausfrau mehr. Nicht einmal fürs Wochenende habe ich etwas eingekauft.«
»Das können wir morgen Vormittag gemeinsam tun, Isolde.« Es kam ihm vor, als habe er eben einen winzigen Fortschritt erzielt. Er streichelte sie liebevoll. »Weißt du noch? Als wir jung verheiratet waren, haben wir immer samstags