Henrik und Nick waren an diesem Tag zum Essen in Sophienlust geblieben.
Henrik fragte zutraulich: »Sind Sie jetzt gar nicht mehr traurig?«
»Nein, Henrik, heute bin ich nicht traurig«, konnte Isolde zu ihrer eigenen Verwunderung erwidern. Es war ihr sogar leichtgefallen, Micki den Teddy von Renata zu schenken. Beinahe schämte sie sich deswegen ein bisschen, denn es kam ihr vor, als habe sie damit ihr Töchterchen im Stich gelassen.
*
Von diesem Tag an blieben Micki und Isolde unzertrennlich. Ganz von selbst brachte es diese neue Situation mit sich, dass auch die anderen Kinder ein neues Verhältnis zu Isolde fanden. Wie Micki nannten sie nun auch die übrigen Kinder Tante Isolde. Nur die größeren Bewohner von Sophienlust ließen es weiter bei der formellen Anrede, weil sie sich schon zu erwachsen vorkamen, um Tante zu sagen. Zu ihnen zählte natürlich auch Nick, was jedoch der Freundschaft zwischen ihm und Isolde keinen Abbruch tat.
Denise beobachtete die Entwicklung mit heimlicher Freude, hütete sich allerdings, so direkte Fragen zu stellen, wie es ihr kleiner Sohn Henrik getan hatte.
So verging einige Zeit. Der Brief, den Isolde eigentlich von Achim erwartet hatte, traf vorerst nicht ein. Sie hörte gar nichts von ihrem Mann. Auch Lieselott hüllte sich in Schweigen.
Isolde dachte darüber nicht nach. Sie lebte von einem Tag zum anderen und suchte sich immer neue Pflichten in Sophienlust, sodass sie sich auf diese Weise ebenso beliebt wie unentbehrlich machte.
Auch der Ausflug nach Bachenau wurde endlich unternommen, sodass Isolde das so viel gerühmte Tierheim zu sehen bekam. Andrea zeigte ihr ihre Schützlinge, und Nick wusste jeweils die genaue Geschichte des Tieres zu erzählen.
Anschließend bewirtete Andrea, die mithilfe ihrer getreuen Betti Kuchen gebacken hatte, Frau von Rettwitz sowie Nick, Henrik, Pünktchen und noch vier weitere Kinder aus dem Heim.
»Gefällt es Ihnen in Sophienlust?«, fragte Andrea, nachdem auch die letzte Kakaotasse gefüllt war und sie sich mit ihrem Tee zu Isolde setzen konnte.
»Es ist wirklich ein Haus, in dem man glücklich sein kann, Frau von Lehn«, gab Isolde leise zurück. »Am liebsten möchte ich für immer hierbleiben.«
Andrea nickte. »Das kann ich verstehen. Unsere Mutti hat in Sophienlust etwas ganz Einmaliges geschaffen. Aber ich denke, dass Sie eines Tages zurück zu Ihrem Mann wollen. Das kommt ganz von selbst.«
Isolde wurde ernst. »Ich weiß es noch nicht«, erwiderte sie zurückhaltend.
Andrea warf ihr einen forschenden Blick zu. Eine weitere Frage stellte sie nicht, sondern liebkoste den riesigen Kopf ihrer Dogge Severin, die niemals von ihrer Seite wich.
Am Abend, als der Kleinbus mit den Ausflüglern längst wieder in Sophienlust war und Isolde eben Micki abschrubbte, um sie wie immer zu Bett zu bringen, rief Andrea in Schoeneich an.
Denise kam sofort an den Apparat und hörte geduldig zu, als ihre Tochter ein wenig umständlich über den Besuch dieses Tages berichtete.
»War denn etwas Besonderes, Andrea?«, erkundigte sich Denise schließlich. »Es hört sich an, als wärest du ein bisschen bedrückt. Dabei sagst du, dass die Kinder wie immer begeistert gewesen seien und vom Kuchen kein Krümelchen übrig geblieben sei. Wo steckt denn Hans-Joachim?«
Denise tippte zunächst auf einen kleinen ehelichen Streit des jungen Paares.
»Er ist eben heimgekommen und steht unter der Dusche. Wie du weißt, wird ein Tierarzt manchmal ganz schön schmutzig in Ausübung seines Berufes.« Dazu lachte Andrea so fröhlich, dass Denise sofort wieder beruhigt war.
»Was hast du also?«, forschte die Mutter freundlich.
»Es ist wegen Frau von Rettwitz, Mutter. Sie trägt ja jetzt endlich keine schwarzen Kleider mehr und kann auch mit den Kindern fröhlich sein wie jeder von uns. Aber sie hat etwas gesagt, was mir jetzt nachgeht.«
»Und – das wäre?«
»Es hörte sich an, als wollte sie nicht mehr zurück zu ihrem Mann. Sie meinte, es sei wunderbar in Sophienlust. Sie möchte für immer dort bleiben. Jedenfalls drückte sie sich so ähnlich aus.«
»Er ist nur ein einziges Mal hiergewesen«, überlegte Denise halblaut. »An dem Abend habe ich mich gewundert, weil Isolde gar so schweigsam und er gar so lebhaft war.«
»Man kann schlecht fragen, aber ich meine, sie sollte ihren Mann nicht gar zu lange allein lassen, Mutti. Mit Hans-Joachim täte ich das ganz gewiss nicht«, sprudelte Andrea hervor, die sich überhaupt nicht vorstellen konnte, dass man den geliebtesten Menschen der Welt wegen eines seelischen Kummers verlassen konnte.
»Vielleicht kann ich mal ein Wort fallen lassen. Aber man muss in solchen Dingen behutsam sein, Andrea. Wie schnell ist etwas Falsches gesagt. Mach dir nur keine Sorgen. Isolde ist zu uns gekommen, damit sie wieder fröhlich wird und am tätigen Leben teilnimmt. In dieser Hinsicht erweist sich unser liebes Sophienlust mal wieder als richtig. Alles weitere wird sich schon finden.«
Andrea seufzte. »Hoffentlich, Mutti.« Immerhin war ihr leichter, als sie sich die Sache vom Herzen geredet hatte.
*
Lieselott und Achim waren mit dem Wagen ins Grüne gefahren und lagen Seite an Seite in der Sonne, nachdem sie zuvor ein Picknick veranstaltet hatten. Wie immer war alles von Lieselott liebevoll und bis in die kleinste Einzelheit vorbereitet worden.
Das blonde Mädchen nahm einen Grashalm und kitzelte Achim am Kinn. Er lächelte. »Lass mich, ich bin jetzt müde und faul. Du hast mich zu gut gefüttert.«
Lieselott legte sich zurück und schloss ihrerseits die Augen. Vielleicht hatte er recht. Es war wunderschön hier. Warum sollten sie nicht ein bisschen ausruhen oder sogar schlafen?
Aber Lieselott war nicht müde. Ihre Gedanken wanderten ohne ihr Zutun und gingen den Weg, den sie eigentlich immer gingen. Lieselott dachte an Isolde und vor allem daran, dass Achim endlich etwas wegen der Scheidung unternehmen müsste.
»Schläfst du?«, fragte sie leise.
»Nöö, ich döse bloß ein bisschen. Es ist wunderbar hier.« Achim war in bester Laune.
»Dann könnten wir ein bisschen reden?«, erkundigte sie sich vorsichtig.
»Wenn du willst.«
»Ja, Achim.« Mit einem Ruck richtete sie sich auf und umschlang die sonnenbraunen Beine mit den nackten Armen.
Er blinzelte ihr zu. »Hübsch siehst du aus, Lieselott. Du passt auf diese Wiese.«
Sie lächelte geschmeichelt. »Danke für das Kompliment.« Dann beugte sie sich zu ihm hinunter und küsste ihn lange.
»Nennst du das reden?« Er war ein wenig außer Atem gekommen und legte den Arm um sie, damit sie ihm nicht wieder entglitt. Denn ihm gefiel ihre warme Nähe und ihre verhaltene Leidenschaft recht gut.
Eine ganze Weile tauschten sie Zärtlichkeiten aus. Dann aber befreite sich Lieselott entschlossen und saß nun wieder aufrecht neben ihm.
»Bleib doch«, bat er und streckte die Hand aus.
»Nein, Achim, jetzt möchte ich reden.«
»Worüber denn, Teufelchen?«
»Über uns beide und über Isolde. Es geht so nicht weiter. Das musst du einsehen. Hast du ihr geschrieben?«
Sie wusste, dass er bisher rein gar nichts unternommen hatte.
»Ich finde, so etwas lässt sich schlecht schreiben, Lieselott. Du selbst hast das herausgefunden und bist deshalb nach Sophienlust gefahren. Ich muss auch hin und mit Isolde persönlich sprechen.«
»Aber sie hat mir ausdrücklich erklärt, dass sie einverstanden ist, Achim.«
»Trotzdem meine ich, dass ich ihr das schulde, Lieselott. Wenn überhaupt,