»Gibt es«, nickte Rolf Hilger. »Es ist sogar ein nettes Lokal.«
Irene war frei von jeglichen Hemmungen. Sie machte sich keinerlei Gedanken darüber, wie er sie einschätzen könnte. Mit Männern seiner Art wurde sie spielend fertig. Da genügte wirklich nur ein Augenaufschlag, ein vielsagendes Lächeln. Sie hatte sich auch schon blitzschnell eine Taktik zurechtgelegt.
»Bekommt Frau Rickmann oft Herrenbesuch?« fragte sie beiläufig.
»Nicht, daß ich wüßte.«
Diese Frage verblüffte ihn so, daß er bei der Wahrheit blieb.
»Ich werde es Ihnen erklären, warum es mich interessiert«, sagte Irene diplomatisch. »Mein Schwager hat ein Auge auf Frau Rickmann geworfen. Er ist zur Zeit sehr krank, aber er ist auch ein sehr vermögender Mann. Sie verstehen, daß wir uns verpflichtet fühlen, etwas mehr über dieses uns unbekannte junge Mädchen zu erfahren. Ich wollte sie aufsuchen und mich mit ihr unterhalten, aber sie bekam Herrenbesuch und war sehr wenig freundlich zu mir.«
Sie hoffte, daß er das schluckte. Ablesen konnte man es von seinem Gesicht nicht, wie er es aufnahm.
Sie hatten nun das Lokal betreten.
Rolf Hilger, der ziemlich verblüfft über ihre Erklärung gewesen war, fühlte sich geschmeichelt, sein Stammlokal mit einer so attraktiven Frau besuchen zu können, die ein solches Aufsehen erregte, daß sich alle Blicke ihr zuwandten.
Daß der besagte Schwager ein reicher Mann sein mußte, glaubte er ihr aufs Wort, er wunderte sich nur, wie ausgerechnet die schüchterne Mirja an einen solchen geraten war.
Irene war nicht geneigt, einen langen Abend mit diesem netten, aber unbedeutenden jungen Mann zu verbringen. Außerdem machte sie sich Gedanken, wo Fred versumpft sein könnte. Sie steuerte schnell auf ihr Ziel los.
»Also, da kam ein Mann zu Frau Rickmann«, knüpfte sie da an, wo sie aufgehört hatte. »Ein großer blonder, gutaussehender Mann. So ein nordischer Typ. Kennen Sie ihn?«
»Nie gesehen«, erwiderte er, sie fasziniert anstarrend. Wie ein Filmstar sah sie aus, und ihm war das Glück beschieden, mit ihr zusammen sein zu können!
Er war wie benebelt.
»Sie scheint eine recht raffinierte Person zu sein«, fuhr Irene fort. »Es würde mir für meinen Schwager sehr leid tun, wenn er enttäuscht würde, aber immerhin wäre es besser, er erführe die Wahrheit, bevor es zu einer festen Bindung kommt.«
»Ich glaube wirklich nicht, daß Frau Rickmann Herrenbekanntschaften hat«, erklärte Rolf arglos. »Ich wohne schon ein paar Monate mit ihr Tür an Tür. Ihre Mutter ist erst vor einem halben Jahr gestorben. Sie hat eigentlich nie Besuch.«
»Aber heute hat sie welchen«, stellte Irene ungehalten fest. Merkte er denn nicht, worauf sie hinauswollte?
Da richtete sich ihr Blick auf die Tür und wurde starr. Ein breitschultriger Mann trat schwankend ein, ging zur Bar und verlangte einen Whisky.
»Ich muß jetzt gehen«, stieß Irene hervor. »Hier ist meine Karte. Besuchen Sie mich morgen, aber rufen Sie vorher an. Bitte, folgen Sie mir jetzt nicht.«
Bevor er sich versah, huschte sie, weit von der Bar entfernt, an den Tischen vorbei zum Ausgang. Er blickte ihr nach und dann auf die Karte, die sie auf den Tisch gelegt hatte.
»Irene Arnold-Mattis«, las er. Und das war ein Name, der ihm bekannt war. Die Gedanken überstürzten sich in seinem Kopf, aber noch war er nicht fähig, sie zu ordnen. Zusammenhänge zu finden und vor allem eine Erklärung für ihr schnelles Verschwinden, das einer Flucht glich.
Irene hatte ihren Wagen rasch entdeckt.
Es war gut, daß sie die zweiten Wagenschlüssel hatte.
Zu ihrer Erleichterung brauchte sie nicht lange zu warten. Schwankend kam Fred Haldegg heraus und auf den Wagen zu.
Als er sich mühte, die Tür aufzuschließen, herrschte sie ihn an: »Wir werden uns unterhalten, wenn du wieder nüchtern bist, du Trottel!«
»Ich habe auf dich gewartet«, lallte er.
»Ich habe auf dich gewartet«, sagte sie scharf.
»Ich habe vor dem Haus gewartet. War nur mal ein Bier trinken«, verteidigte er sich. »Hast du was erreicht?«
»Ich werde dir überhaupt nichts mehr auf die Nase binden. Du bringst mich noch ins Unglück mit deiner Trinkerei.«
Sie gab Gas, und der Wagen schoß davon. Sie hatte nicht bemerkt, daß Rolf Hilger fast unmittelbar danebengestanden hatte und auch den Mann erkannte, der neben ihr saß.
So manche Gedanken gingen Rolf Hilger durch den Sinn. Mochte er auch seine Schwächen haben, aber im Grunde war er harmlos, jedoch nicht skrupellos.
Er wußte jetzt, warum Irene Arnold-Mattis das Lokal so rasch verlassen hatte. Er hatte den Mann an der Bar gesehen und gleich nach ihm das Lokal verlassen. Nun fuhr er mit dieser Frau, die ein so merkwürdiges Interesse für Mirja an den Tag gelegt hatte, davon.
So einfältig war er denn doch nicht, daß ihm nicht bewußt wurde, daß sie ihn für ihre Zwecke einspannen wollte. Aber gar so gescheit, wie sie selbst wohl meinte, schien Irene doch nicht zu sein, denn sonst hätte sie ihn wohl nicht gleich zu sich eingeladen. Der Name Arnold war schließlich nicht unbekannt, und ganz zufällig war Rolf Hilger ein Angestellter dieser Firma. Das allerdings hatte Irene nicht wissen können.
Ihm ging noch mehr durch den Sinn. Mirja sollte Beziehungen zu Benedikt Arnold haben?
Rolf Hilger hatte seinen Chef bisher nur flüchtig zu Gesicht bekommen. Man sprach darüber, daß er sich von dem Unfall nie richtig erholt hatte. Man sprach über vieles, aber Rolf Hilger war erst ein paar Monate Angestellter der Arnold-Werke und mehr an seiner beruflichen Karriere interessiert als am Klatsch.
Aber wenn er sich auf die richtige Seite schlug – ganz selbstlos dachte er jetzt doch nicht –, dann war vielleicht einiges für ihn drin, womit er gar nicht gerechnet hatte.
Er jedenfalls war entschlossen, Augen und Ohren offenzuhalten und sich auf die richtige Seite zu schlagen und sich nicht wegen einer attraktiven, aber undurchschaubaren Frau in die Nesseln zu setzen.
*
Was Mirja von Lars Lundgren erfahren hatte, beschäftigte sie bei weitem nicht so sehr wie alle anderen Beteiligten. Sie hatte andere Sorgen, und es belustigte sie sehr, daß Dr. Lundgren sich über diese Ähnlichkeit so aufregte.
Ihm war es sichtlich peinlich, nachdem sie sich darüber unterhalten hatten und Mirja ihm versicherte, daß Dr. Rasmus überaus glücklich verheiratet sei und ganz bestimmt nicht der Mann, der mit anderen Frauen anbandelte.
Sie hatte mit ihm gemeinsam die Wohnung verlassen, nachdem Dr. Liepmann sie anrief und ihr sagte, daß Benedikt bei Bewußtsein sei. Sie hatte es eilig, in die Klinik zu kommen.
»Dr. Laurin wird es freuen, wenn Sie die Klinik besichtigen wollen«, sagte sie zu Lars Lundgren, »und morgen wird ja auch Dr. Rasmus zurückkommen. Dann können Sie sich mit ihm aussprechen.«
»Entschuldigen möchte ich mich wenigstens bei ihm«, gestand er verlegen.
Ganz im Innern gestand er sich noch ein, daß diese Mirja manches hatte, was seiner Mirja eigentlich fehlte. Etwas, das die Geliebte auch zur Kameradin machte. Aber Mirja Rickmann war ja unter ganz anderen Umständen aufgewachsen als Mirja von Korten. Sie hatte ihm erzählt, wie entbehrungsreich das Leben mit ihrer Mutter gewesen war, aber sie hatte auch gesagt, daß sie sich keine bessere Mutter vorstellen könnte.
Nun war er wieder allein und seinen Gedanken ausgeliefert. Ja, ausgeliefert, denn unentwegt umkreisten sie einen Punkt: diese verblüffende Ähnlichkeit und die gleichen Vornamen. Es war wirklich ein bißchen viel, und ihm erging es ähnlich wie Dr. Rasmus. Er wußte, daß es zwei Mirjas gab und konnte es doch nicht glauben.