Hätte Rick Masters noch den geringsten Zweifel daran gehabt, daß er es hier mit übersinnlichen Kräften zu tun hatte, so wäre ein Blick auf Dracula genug gewesen. Der kleine Hund verkroch sich jaulend und winselnd unter dem Nebensitz.
Rick starrte durch die Windschutzscheibe, während er den Fuß auf das Gaspedal rammte und die Kupplung hart kommen ließ. Der Morgan machte einen Sprung vorwärts.
Rick kurbelte am Lenkrad. Die Vorderräder fraßen sich in den gepflegten Rasen und hinterließen tiefe Spuren. Dabei behielt der Geisterdetektiv die blasse Frau mit der altertümlichen Kleidung ständig vor Augen.
Kein Zweifel, das war die Frau von dem Gemälde! Das war die Frau, die bisher sieben – nein, sogar acht Anschläge verübt hatte. Denn die Schreie soeben stammten von diesem achten Überfall auf die Familie Lauderdale.
Rick wunderte sich darüber, daß dieses übersinnliche Wesen ganz normal floh. Er hätte damit gerechnet, daß sie sich in eine andere Dimension flüchtete, daß sie sich in Nichts auflöste und auf diese Weise ihren Verfolgern entkam. Statt dessen rannte sie quer über den Rasen.
Dadurch bekam der Geisterdetektiv eine Chance, ihr den Weg abzuschneiden. Rick schonte den Morgan nicht. Hinter dem Wagen schoß der kurzgeschnittene Rasen in wahren Fontänen hoch. Die Räder mahlten sich mitleidlos in den weichen Untergrund. Der Morgan tanzte wild hin und her, je nachdem, ob die Reifen griffen oder nicht.
Rick Masters saß mit zusammengebissenen Zähnen hinter dem Steuer, beide Hände um das Lenkrad gekrampft. Er hätte gern über Funk die Polizei alarmiert, aber er konnte es nicht. Er brauchte seine ganze Kraft, um den wild bockenden und schlingernden Wagen unter Kontrolle zu halten.
Auch wenn die Unbekannte wie ein gewöhnlicher Mensch weglief, hatte sie doch einen Vorteil auf ihrer Seite. Ihre Füße schienen den Boden kaum zu berühren. Es war, als schwebe sie über den Boden.
Rick merkte sehr schnell, daß er ins Hintertreffen geriet. Dracula kam nicht unter dem Sitz hervor, ein Beweis dafür, daß die übersinnlichen Kräfte unverändert am Werk waren.
Noch konnte sich der Geisterdetektiv nicht darum kümmern, was sich in dem Herrenhaus ereignet hatte. Er mußte sich voll auf die Jagd konzentrieren.
Der Motor des Morgans heulte auf vollen Touren. Rick sah die Frau für einige Sekunden nicht, weil sich eine dichte Rosenhecke zwischen sie schob. Er preschte rücksichtslos durch die Hecke. Die Lauderdales hatten genug Geld, um den Schaden reparieren zu lassen. Viel wichtiger war, daß Rick die Unbekannte stellte.
Es war nicht mehr weit bis zum Zaun. Rick wußte nicht, ob es hier eine Pforte gab. Er wollte die gefährliche Frau auf keinen Fall aus den Augen verlieren. Deshalb rammte er den Fuß noch einmal auf das Gaspedal und trat es bis zum Anschlag durch.
Der Morgan holte rasant aus, doch die Fremde schaffte es bis zum Zaun.
Der Geisterdetektiv wiegte sich in einer trügerischen Sicherheit. Er sah den massiven Zaun, der aus einzelnen, fingerdicken Metallstäben bestand. Sie waren doppelt mannshoch und endeten in vergoldeten Spitzen. Da kam so schnell niemand hinüber. Rick hatte die Unheimliche in der Falle.
Dachte er…
Im nächsten Moment mußte er seinen Irrtum einsehen.
Die Frau lief mit unverminderter Geschwindigkeit auf den Zaun zu und durchdrang das Gitter, als wäre es gar nicht vorhanden.
Auf der Straße wartete ein schwarzer, rundum geschlossener Lieferwagen. Die Ladetür stand offen.
Die Fremde schwang sich auf die Ladefläche. Die hintere Tür schlug zu, und der Wagen beschleunigte mit Vollgas.
Rick hatte keine Gelegenheit, das Kennzeichen abzulesen. Es war dick mit Lehm verschmiert, obwohl der Lack des Lieferwagens wie frisch poliert schimmerte.
Das Portal war zu weit weg, als daß Rick den Wagen noch einholen konnte. Aber er griff zum Funkgerät und gab die Beschreibung des Lieferwagens durch.
Zehn Minuten später hatte er seinen Morgan quer über das riesige Grundstück zu dem Herrenhaus gefahren, was gar nicht so einfach war, da er in weichen Untergrund geraten war und um ein Haar festsaß. Als er das Manor erreichte, kam soeben die letzte Funkmeldung, die ihn interessierte. Die Streifenwagen der Polizei hatten den Lieferwagen bisher noch nicht gefunden. Rick wußte, daß es ab sofort aussichtslos war. Das Fahrzeug hatte sich schon zu weit entfernt und war in der Millionenstadt London untergetaucht.
Der Geisterdetektiv stieg langsam aus und ging auf den Haupteingang zu. Jetzt würde er gleich erfahren, was in dem Haus geschehen war.
*
Der Mann am Steuer des schwarzen Lieferwagens war ganz ruhig, während die bleiche Frau auf dem Grundstück der Lauderdales ihre schauerliche Aufgabe erfüllte. Er wußte, daß sie kaum versagen konnte. Nach den anfänglichen Fehlschlägen war sie praktisch unbesiegbar geworden.
Der Mann wußte noch mehr. Ging es tatsächlich wider Erwarten schief, konnte weder ihm noch ihr etwas passieren. Die bleiche Frau war ohnedies unangreifbar, und ihm konnte niemand etwas nachweisen. Auch wenn man entdeckt hätte, daß er vor dem Grundstück wartete, auch wenn man ihn identifiziert hätte – er wartete lediglich in einem Lieferwagen. Das war nicht verboten. Niemand konnte einen Zusammenhang zwischen ihm und den Ereignissen in dem Manor herstellen.
Doch plötzlich zuckte der Mann zusammen. Er fühlte, daß sich eine Gegenkraft näherte, eine Person oder ein Gegenstand, der seinen Interessen entgegenwirkte. Er hielt scharf Ausschau und entdeckte einen niedrigen, offenen Sportwagen im Oldtimer-Look. Den Mann hinter dem Steuer sah er nicht deutlich, dafür um so besser den Beifahrer.
»Harold F. Lauderdale!« zischte er haßerfüllt.
Hinter dem Morgan rollte der Rolls Royce des Stahlmagnaten auf das Grundstück.
Gleich darauf fühlte der Mann in dem schwarzen Lieferwagen, daß sein Geschöpf in Bedrängnis geriet. Die bleiche Frau mußte fliehen.
Nun stand es fest. Der Fahrer des Morgans war ihr Feind und sogar ein gefährlicher Gegner.
Dennoch geriet der Mann im Lieferwagen nicht in Panik. Er hatte noch einige schöne Tricks auf Lager, gegen die niemand etwas ausrichten konnte.
Er ließ sein Geschöpf durch den Zaun gehen. Somit waren ihrem Verfolger alle Möglichkeiten abgeschnitten. Er mußte sich an die Naturgesetze halten – im Gegensatz zu der gnadenlosen Mörderin aus einer anderen Dimension.
Die weiße Frau betrat den Lieferwagen. Von allein schlugen die Ladetüren zu.
Während der Mann den Lieferwagen mit Vollgas beschleunigte, beobachtete er die weiteren Vorgänge in einem Rückspiegel, den er eigens zu diesem Zweck im Wagen montiert hatte.
Die bleiche Frau stand aufrecht auf der Ladefläche. Sie schwankte nicht, als der Wagen in eine enge Kurve ging. Die Gesetze der Schwer- und Fliehkraft waren für sie aufgehoben.
Starr betrachtete sie das Bild, das an der einen Innenwand befestigt war. In dem goldenen Rahmen war ein dunkler Hintergrund zu sehen, dazu die Umrisse einer sitzenden Gestalt. Die Fläche, an der man eigentlich die porträtierte Person sehen sollte, war weiß.
Mit einer gleitenden Bewegung ließ sich die Unheimliche gegen das Bild sinken.
Ihr Körper verschwand, sie verschmolz mit der Leinwand.
Im nächsten Moment war wieder jenes Bild entstanden, das vor zwei Wochen von dem Kunsthändler George Kennloch ersteigert worden war.
Für einen unheimlichen Kunden ersteigert, der nun am Steuer eines schwarzen Lieferwagens saß und mit Hilfe seiner übersinnlichen Fähigkeiten nachforschte, welche Wirkung der Einsatz der Unheimlichen gehabt hatte.
Seine Gedanken drangen über große Entfernungen durch Mauern und andere Hindernisse hindurch und kehrten in das Herrenhaus der Familie Lauderdale zurück.
Dort herrschte das Chaos!
*