Elis wartete kurz und fuhr dann triumphierend fort: »Vielleicht hat er sich das Bein gebrochen und liegt jetzt irgendwo! Und wir warten und warten, aber er kommt nicht …«
»Dummes Geschwätz«, fuhr Tom ihn wütend an, »so was kann nur im Winter passieren, wenn die Felsen vereist sind.« Und plötzlich musste er daran denken, wie es gewesen war, als sie letzten Herbst gewartet hatten, damals, als sein Vater mit Oswald draußen bei den Leuchttürmen gewesen war und das Gas sich entzündet und ihm die Linse direkt ins Gesicht gesprengt hatte. Halb blind hatte er mit Hilfe Oswalds, der ihm laut weinend die Richtung ansagte, irgendwie nach Hause gefunden …
Elis redete in derselben Manier weiter und beobachtete dabei aufmerksam Toms Gesicht: »Bei euch daheim wissen sie nichts. Es ist schon spät am Abend. Schließlich begreifen sie, dass etwas passiert ist. Was sagst du dazu?«
»Du bist ein Schwächling, das sage ich!«, schrie Tom. »Du hast Angst! Du stinkst ja vor Feigheit …«
Auf einmal, blitzschnell, kam Elis auf die Beine und warf sich auf ihn. Tom sah die Zähne aufblitzen, zwei Reihen dichter kleiner Zähne zwischen den verzweifelt grinsenden Lippen, dann wurde er mit einem eisernen Griff um den Leib in rasender Wut umgeworfen. Sie rollten unter die geduckten Zwergtannen, dort war es bereits schummrig, sie mussten sich unter einer niedrigen Decke aus verschlungenem Astwerk prügeln – ha, du Ferienkind, du verfluchter Sommerkobold, lass bloß nicht los, dann weiß ich nämlich nicht, was ich dir antue, ich schlage und schlage, der magere knochige Körper unter ihm war zum Zerreißen angespannt, es war vollkommen klar, dass eine Niederlage für beide unmöglich war, ja, absolut unvorstellbar. Sie mussten weitermachen. Sie rangen in völligem Schweigen, lautlos, ohne ein einziges Keuchen. Endlich wälzte Tom seinen Gegner von sich, worauf sie auseinanderzuckten, aber ohne sich aufrichten zu können, weil kein Platz war, also krochen sie zurück und rangen weiter, was blieb ihnen anderes übrig.
Die Eiderente lag regungslos in ihrem Nest, sie hatte die gleiche Farbe wie der Boden. Als die beiden Kämpfer sie erblickten und sehr vorsichtig wieder aus dem Tannengestrüpp herauskrochen, aufstanden und auseinandergingen, blieb sie unverändert still liegen.
Die Nacht war gekommen. Am untersten Rand des Horizonts brannte der Westhimmel noch wie eine Rose, aber Nacht war es trotzdem. Tom lief ein Stück zum Ufer hinunter, wo Axel immer anzulegen pflegte, er zitterte heftig, sein ganzer Körper bebte, und er versuchte an gar nichts zu denken. Lass es ruhig bleiben, bitte sei so gut und lass es ruhig bleiben, einfach auf dem Felsen sitzen, die Knöchel fest an die Augen gepresst und es ruhig bleiben lassen. Ziemlich lange ging das gut, doch dann explodierte eine Erinnerung, und er ließ sie kommen und sie kam, damals, als das Gas im Leuchtturm explodiert war. Mama, die fragte: »Axel, was hast du gemacht, als das passiert war«? Papa, der antwortete: »Ich bin gekrochen, bis die Augen wieder ein bisschen sehen konnten, und hab Oswald irgendwie ins Boot gebracht und versucht, ihn zu beruhigen. Immerhin war kein Wind und das war gut. Man muss die Dinge so nehmen, wie sie kommen.« Das sagte er – man muss die Dinge so nehmen, wie sie kommen. Und dann sagte ich, Papa wird mit allem fertig und hat nie Angst, und da sagte Papa, du irrst dich. Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie solche Angst gehabt. Genau so sagte er: Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie solche Angst gehabt.
Inzwischen erlosch der Westhimmel und machte dem Sonnenaufgang aus der anderen Richtung Platz. Es war schrecklich kalt. Als Tom in dem Dämmerlicht zurückkam, konnte er Elis nur als Silhouette vor dem Meer erkennen, er sagte: »Jetzt kommt er bald. Wahrscheinlich hat er etwas Wichtiges vorgehabt, etwas, das man nicht aufschieben kann.«
»Meinst du?«, sagte Elis.
»Ja. Aber immerhin ist kein Wind und das ist gut. Man muss die Dinge so nehmen, wie sie kommen.«
Eine Zeit lang standen sie da und blickten aufs Meer. Ein paar Möwen flogen am Felsvorsprung auf und kreischten kurz, dann war es wieder still.
Tom sagte: »Am besten, du schläfst ein bisschen. Ich wecke dich, wenn er kommt.«
Axel kam im Morgengrauen, zuerst war der Motor nur wie schwacher Pulsschlag vernehmbar, die Schläge wurden stärker, dann tauchte das Boot wie ein kleiner schwarzer Fleck auf dem grauen Morgenmeer auf, und jetzt konnte man bereits die weißen Bärte um den Bug erkennen. Axel umfuhr das Riff, wurde langsamer und legte an Land. Ganz recht, da standen sie und warteten. Er verstand sofort. Der eine hatte eine unwahrscheinlich geschwollene, völlig veränderte Nase, der andere konnte kaum aus seinem einen Auge schauen, im Übrigen waren sie ziemlich zerfetzt.
»So, so«, sagte Axel, »dann scheint ja alles unter Kontrolle zu sein. Es hat einen Motorschaden gegeben, die Benzinleitung ist abgegangen. Das hier tut mir leid, aber man muss die Dinge eben so nehmen, wie sie kommen. Wie ist es euch ergangen?«
»Gut«, sagte Elis.
»Na, dann ab ins Boot mit euch, damit wir nach Hause fahren können. Aber weckt die Kleinen nicht, die sind müde.«
Sie hockten sich neben den Motorkasten, wo es wärmer war, und wurden mit einer Persenning zugedeckt.
»Hier habt ihr Hannas Proviant«, sagte Axel, »esst alles auf, was übrig ist, sonst regt sie sich auf. In der Thermoskanne gibt’s Kaffee.«
Während das Boot hinausfuhr, wurde der Himmel im Osten heller und verfärbte sich rosa, die erste kleine glühende Scherbe einer neuen Sonne schaute über den Horizont. Es war kalt.
»Schlaft nicht gleich ein«, sagte Axel. »Ich hab etwas für Elis, das ihm gefallen wird. Schau mal. Hast du jemals so ein schönes Vogelskelett gesehen? Das kannst du mit allem Pomp begraben.«
»Es ist ganz besonders schön«, antwortete Elis, »und es ist sehr freundlich, dass Sie mir das schenken, aber leider glaube ich nicht, dass ich es haben will.«
Und damit rollte er sich dicht neben Tom auf dem Bootsboden zusammen, und beide schliefen augenblicklich ein.
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