»Was meinst du damit?«
»Ich meine, später, wenn es keine Welt mehr gibt, hätte man genauso gut Plastik verwenden können.«
Und dann folgte wieder der ganze Sermon, alles, über Atomkrieg und Gottweißwas, Gerede, Gerede ohne Ende.
Tom und Elis hatten ihr Zimmer über der Küche, ein sehr kleines Zimmer mit Dachschräge und einem Fenster zur Wiese. Abends war Elis ewig lang damit zugange, seine Kleider zusammenzulegen und aufzuhängen, der rechte Schuh kam neben den linken Schuh, ganz penibel, die Armbanduhr wurde auch aufgezogen.
»Hör mal«, sagte Tom. »Lohnt sich das überhaupt, was du da machst? Du hast gesagt, jederzeit kann der Atomkrieg losgehen. Und wenn das morgen ist? Dann ist eh alles für die Katz!«
»Für welche Katze?«
Tom stöhnte. »Das sagt man eben so.«
»Warum?«
»Geh jetzt ins Bett und schlaf und sei nicht so doof. Ich mag nicht reden.«
Elis drehte sich zur Wand, sein Schweigen war kompakt, aber man wusste sehr genau, woran er dachte, allmählich würde es kommen, das wusste man, da half gar nichts, und schon kam es, eine gedämpfte Litanei über das verseuchte Meer und die verseuchte Luft, und dann die vielen Kriege und alle, die nichts zu essen hatten und überall und immerzu starben, und was soll man bloß machen, was soll man bloß machen …
Tom richtete sich im Bett auf und sagte: »Aber das alles ist so weit weg! Was ist eigentlich mit dir los?«
»Ich weiß nicht«, antwortete Elis. Kurz darauf sagte er: »Du sollst mir nicht böse sein.«
Dann wurde es endlich still.
Tom war es ja gewohnt, alles zu ertragen, was damit verbunden war, der Älteste zu sein, der sich um Oswald und Mia zu kümmern hatte und deren schlimmste Dummheiten so gut es ging in Ordnung zu bringen, das war etwas, womit man sich einfach abzufinden hatte. Aber mit Elis war es irgendwie anders. Obwohl er gleich alt war wie Tom, konnte man ihm einfach nicht dabei helfen, mit irgendwas klarzukommen, das war vollkommen unmöglich. Man wurde nur wütend. Es tat nicht einmal gut, bewundert zu werden. Und alles war total ungerecht. Wie diese Sache mit dem Haubentaucher. Tom konnte wirklich nichts dafür, dass der im Netz hängen geblieben war, so was kommt eben vor. Er warf den Vogel ins Uferwasser und sofort machte Elis eine große Nummer daraus: »Tom. Dieser Haubentaucher, der hat lang gebraucht, bis er tot war. Die können zwanzig, dreißig Meter tief tauchen, hast du das gewusst? Stell dir mal vor, wie er sich gefühlt hat, wie lange er versucht hat, die Luft anzuhalten …«
»Du bist verrückt«, sagte Tom. Plötzlich fühlte er sich irgendwie unwohl.
Oder es klang so: »Ich weiß genau, was ihr mit den kleinen Kätzchen macht, ihr ertränkt sie. Habt ihr eine Ahnung, wie …« Und so weiter, nichts als Jammer und Elend. Es war nicht zum Aushalten.
Elis begrub den Haubentaucher oben an der Straße zum Dorf, wo es gebrannt hatte und nur noch Weidenröschen zwischen den Baumstümpfen wuchsen. Das sah ihm ähnlich, ausgerechnet so einen Ort auszusuchen. Er stellte ein Kreuz mit einer Nummer auf, Nummer Eins. Danach folgten noch mehr Gräber – die Opfer der Mausefallen, Vögel, die an die Fensterscheibe geflogen waren, vergiftete Wühlmäuse, allesamt wurden sie in Stille begraben und nummeriert. Manchmal ließ Elis nebenbei eine Bemerkung fallen, über einsame Gräber, um die sich niemand kümmere. »Und wo habt ihr euren eigenen Friedhof? Der würde mich interessieren. Habt ihr viele Verwandte dort?« Es gelang dem Jungen immer wieder, einem ein schlechtes Gewissen zu machen, oft war nicht mehr nötig, als dass er einen mit diesen bekümmerten, unheimlich erwachsenen Augen ansah, damit man sich sofort an sämtliche eigenen Vergehen erinnerte.
Einmal, als Elis noch schlimmer als sonst herumorakelte, unterbrach Hanna ihn brüsk: »Du kennst dich sehr gut aus mit allem, was stirbt und leidet, nicht wahr, Elis?«
Er sah sie ernst an und antwortete: »Aber das muss ich ja. Es gibt sonst niemand, der das tut.«
Einen Augenblick lang wurde Hanna von Gottweißwas ergriffen und hätte das Kind am liebsten an sich gedrückt, aber sein strenger Blick hinderte sie daran. Hinterher dachte sie: Hoffentlich bin ich nicht hartherzig, ich werde mich bessern. Doch dazu kam es nicht, denn kurz darauf geschah das ganz Schlimme und Unverzeihliche: Elis hatte der kleinen Mia drei Mark versprochen, wenn sie ihm ihren Popo zeigte. »Er wollte mir beim Pieseln zugucken«, erzählte Mia. Und fast genauso schlimm war es, als Elis seinen Gastgeber fragte: »Wie viel kriegst du für mich?«
»Was sagst du da?«
»Wie viel kriegst du monatlich für mich? Ist das Schwarzgeld? Ich meine, ohne Steuern?«
Axel wechselte einen Blick mit seiner Frau und verließ die Küche.
Als ob das nicht genug wäre, hatte Elis eine erstaunliche Fähigkeit, Dinge aufzustöbern, die kaputt waren. Immer wieder schleppte er etwas an, das nicht mehr funktionierte, und lief damit zu Tom, um es ihm vorzuführen. »Kannst du das hier reparieren? Du kannst doch alles reparieren. Wahrscheinlich ist das draußen im Regen liegen geblieben, schau mal, es ist ganz verschimmelt. Früher war das mal etwas sehr Schönes.«
»Wirf es weg«, sagte Tom. »Ich mache nur neue Sachen, für Kaputtes interessiere ich mich nicht.«
Elis sammelte den Krempel in einem Haufen neben seinem Friedhof, der Haufen wurde immer größer, und Elis schien fast stolz auf die betrübliche Anhäufung zu sein. Niemand hatte bisher bemerkt, was alles um den Hof herumlag, ausrangiertes, nutzloses Zeug. Sie hatten es einfach nicht gesehen. Aber Elis sah, scharf und kritisch. Manchmal, wenn er die Hofbewohner mit seinem direkten, unentrinnbaren Blick betrachtete, konnte es passieren, dass sie sich plötzlich ihrer verdreckten Arbeitskleidung und Arbeitshände bewusst wurden.
Einmal sagte Hanna mit einem Anflug von Strenge: »Elis, denk jetzt bitte nur ans Essen und an sonst nichts. Bis zum Herbst solltest du ein bisschen was auf die Rippen kriegen, damit man sich nicht vor deinem Herrn Papa schämen muss.«
Elis fragte: »Könnt ihr mich bis zum Herbst ertragen?« Als niemand antwortete, sagte er: »Ihr vergeudet das Essen. Habt ihr schon mal daran gedacht, wie viele überhaupt nichts zu essen haben? Tut mir leid, dass ich das sagen muss, aber ich weiß, was ihr alles in den Abfall werft und dass das dann im Meer landet.«
»Das ist ja wohl …!«, schnaubte Axel und erhob sich. »Ich muss mal kurz nach den Booten schauen.«
Zugegeben, die Familie Fredriksson gestattete sich einen kleinen Luxus: Wenn das Essen nicht absolut frisch war, schmeckte es ihnen nicht, egal ob es Fisch oder Fleisch betraf oder einfach Hannas selbst gebackenes Brot, und so kam es, dass einiges den Weg alles Irdischen nahm. Elis kam sofort dahinter. Er überprüfte den Kühlschrank und räumte das Übriggebliebene heraus, das man gern ein Weilchen stehen ließ, bis es eine gewisse Muffigkeit entwickelte und darum mit gutem Gewissen weggeworfen werden konnte; er rettete diese Reste und aß sie gewissenhaft auf. Das klang dann so: »Nein, keine Fleischbällchen, vielen Dank. Ich nehme die übrig gebliebene Fischsuppe.«
»Haha«, sagte Oswald, der das meiste beobachtet und über vieles nachgedacht hatte und seinen Bruder nie mehr für sich haben durfte, nur weil dieses Ferienkind da war. »Haha, du bist unser alter Abfalleimer, stimmt’s?«
»Man isst, was auf den Tisch kommt«, bemerkte Axel. »Aber es ist nicht die feine Art, sich darin einzumischen, was die Gäste essen, übers Essen spricht man nicht, das ist einfach etwas, das da ist.«
»Das ist es gar nicht«, widersprach Elis, »denk doch an alle, die nichts haben …«, aber weiter kam er nicht, Axel schlug nämlich mit der Hand auf den Tisch und sagte: »Jetzt hältst du den Mund und ihr anderen auch. Hier im Haus ist der Friede dahin!«
Draußen in der Natur herrschte dagegen vollkommener Friede, es war eine Zeit von Windstille und leichten Sommerregen, unten auf der Wiese blühten die Apfelbäume, alles zeigte sich von seiner schönsten Seite. Früher war Tom im Sommer, wenn die hellen Nächte kamen, immer im Wald und an den Stränden herumgestromert,