Die Grundlagen der Arithmetik. Frege Gottlob. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Frege Gottlob
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 4064066114145
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tritt mir entgegen, wenn das Rechnen aggregatives, mechanisches Denken genannt wird2. Ich bezweifle, dass es ein solches Denken überhaupt giebt. Aggregatives Vorstellen könnte man schon eher gelten lassen; aber es ist für das Rechnen ohne Bedeutung. Das Denken ist im Wesentlichen überall dasselbe: es kommen nicht je nach dem Gegenstande verschiedene Arten von Denkgesetzen in Betracht. Die Unterschiede bestehen nur in der grösseren oder geringeren Rauheit und Unabhängigkeit von psychologischen Einflüssen und von äussern Hilfen des Denkens wie Sprache, Zahlzeichen und dgl., dann etwa noch in der Feinheit des Baues der Begriffe; aber grade in dieser Rücksicht möchte die Mathematik von keiner Wissenschaft, selbst der Philosophie nicht, übertroffen werden.

      Man wird aus dieser Schrift ersehen können, dass auch ein scheinbar eigenthümlich mathematischer Schluss wie der von n auf n + 1 auf den allgemeinen logischen Gesetzen beruht, dass es besondrer Gesetze des aggregativen Denkens nicht bedarf. Man kann freilich die Zahlzeichen mechanisch gebrauchen, wie man papageimässig sprechen kann; aber Denken möchte das doch kaum zu nennen sein. Es ist nur möglich, nachdem durch wirkliches Denken die mathematische Zeichensprache so ausgebildet ist, dass sie, wie man sagt, für einen denkt. Dies beweist nicht, dass die Zahlen in einer besonders mechanischen Weise, etwa wie Sandhaufen aus Quarzkörnern gebildet sind. Es liegt, denke ich, im Interesse der Mathematiker einer solchen Ansicht entgegenzutreten, welche einen hauptsächlichen Gegenstand ihrer Wissenschaft und damit diese selbst herabzusetzen geeignet ist. Aber auch bei Mathematikern findet man ganz ähnliche Aussprüche. Im Gegentheil wird man dem Zahlbegriffe einen feineren Bau zuerkennen müssen als den meisten Begriffen andrer Wissenschaften, obwohl er noch einer der einfachsten arithmetischen ist.

      Um nun jenen Wahn zu widerlegen, dass in Bezug auf die positiven ganzen Zahlen eigentlich gar keine Schwierigkeiten obwalten, sondern allgemeine Uebereinstimmung herrsche, schien es mir gut, einige Meinungen von Philosophen und Mathematikern über die hier in Betracht kommenden Fragen zu besprechen. Man wird sehn, wie wenig von Einklang zu finden ist, sodass geradezu entgegengesetzte Aussprüche vorkommen. Die Einen sagen z. B.: »die Einheiten sind einander gleich«, die Andern halten sie für verschieden, und beide haben Gründe für ihre Behauptung, die sich nicht kurzer Hand abweisen lassen. Hierdurch suche ich das Bedürfniss nach einer genaueren Untersuchung zu wecken. Zugleich will ich durch die vorausgeschickte Beleuchtung der von Andern ausgesprochenen Ansichten meiner eignen Auffassung den Boden ebnen, damit man sich vorweg überzeuge, dass jene andern Wege nicht zum Ziele führen, und dass meine Meinung nicht eine von vielen gleichberechtigten ist; und so hoffe ich die Frage wenigstens in der Hauptsache endgiltig zu entscheiden.

      Freilich sind meine Ausführungen hierdurch wohl philosophischer geworden, als vielen Mathematikern angemessen scheinen mag; aber eine gründliche Untersuchung des Zahlbegriffes wird immer etwas philosophisch ausfallen müssen. Diese Aufgabe ist der Mathematik und Philosophie gemeinsam.

      Wenn das Zusammenarbeiten dieser Wissenschaften trotz mancher Anläufe von beiden Seiten nicht ein so gedeihliches ist, wie es zu wünschen und wohl auch möglich wäre, so liegt das, wie mir scheint, an dem Ueberwiegen psychologischer Betrachtungsweisen in der Philosophie, die selbst in die Logik eindringen. Mit dieser Richtung hat die Mathematik gar keine Berührungspunkte, und daraus erklärt sich leicht die Abneigung vieler Mathematiker gegen philosophische Betrachtungen. Wenn z. B. Stricker3 die Vorstellungen der Zahlen motorisch, von Muskelgefühlen abhängig nennt, so kann der Mathematiker seine Zahlen darin nicht wiedererkennen und weiss mit einem solchen Satze nichts anzufangen. Eine Arithmetik, die auf Muskelgefühle gegründet wäre, würde gewiss recht gefühlvoll, aber auch ebenso verschwommen ausfallen wie diese Grundlage. Nein, mit Gefühlen hat die Arithmetik gar nichts zu schaffen. Ebensowenig mit innern Bildern, die aus Spuren früherer Sinneseindrücke zusammengeflossen sind. Das Schwankende und Unbestimmte, welches alle diese Gestaltungen haben, steht im starken Gegensatze zu der Bestimmtheit und Festigkeit der mathematischen Begriffe und Gegenstände. Es mag ja von Nutzen sein, die Vorstellungen und deren Wechsel zu betrachten, die beim mathematischen Denken vorkommen; aber die Psychologie bilde sich nicht ein, zur Begründung der Arithmetik irgendetwas beitragen zu können. Dem Mathematiker als solchem sind diese innern Bilder, ihre Entstehung und Veränderung gleichgiltig. Stricker sagt selbst, dass er sich beim Worte »Hundert« weiter nichts vorstellt als das Zeichen 100. Andere mögen sich den Buchstaben C oder sonst etwas vorstellen; geht daraus nicht hervor, dass diese innern Bilder in unserm Falle für das Wesen der Sache vollkommen gleichgiltig und zufällig sind, ebenso zufällig wie eine schwarze Tafel und ein Stück Kreide, dass sie überhaupt nicht Vorstellungen der Zahl Hundert zu heissen verdienen? Man sehe doch nicht das Wesen der Sache in solchen Vorstellungen! Man nehme nicht die Beschreibung, wie eine Vorstellung entsteht, für eine Definition und nicht die Angabe der seelischen und leiblichen Bedingungen dafür, dass uns ein Satz zum Bewusstsein kommt, für einen Beweis und verwechsele das Gedachtwerden eines Satzes nicht mit seiner Wahrheit! Man muss, wie es scheint, daran erinnern, dass ein Satz ebensowenig aufhört, wahr zu sein, wenn ich nicht mehr an ihn denke, wie die Sonne vernichtet wird, wenn ich die Augen schliesse. Sonst kommen wir noch dahin, dass man beim Beweise des pythagoräischen Lehrsatzes es nöthig findet, des Phosphorgehaltes unseres Gehirnes zu gedenken, und dass ein Astronom sich scheut, seine Schlüsse auf längst vergangene Zeiten zu erstrecken, damit man ihm nicht einwende: »du rechnest da 2 ∙ 2 = 4; aber die Zahlvorstellung hat ja eine Entwickelung, eine Geschichte! Man kann zweifeln, ob sie damals schon so weit war. Woher weisst du, dass in jener Vergangenheit dieser Satz schon bestand? Könnten die damals lebenden Wesen nicht den Satz 2 ∙ 2 = 5 gehabt haben, aus dem sich erst durch natürliche Züchtung im Kampf ums Dasein der Satz 2 ∙ 2 = 4 entwickelt hat, der seinerseits vielleicht dazu bestimmt ist, auf demselben Wege sich zu 2 ∙ 2 = 3 fortzubilden?« Est modus in rebus, sunt certi denique fines! Die geschichtliche Betrachtungsweise, die das Werden der Dinge zu belauschen und aus dem Werden ihr Wesen zu erkennen sucht, hat gewiss eine grosse Berechtigung; aber sie hat auch ihre Grenzen. Wenn in dem beständigen Flusse aller Dinge nichts Festes, Ewiges beharrte, würde die Erkennbarkeit der Welt aufhören und Alles in Verwirrung stürzen. Man denkt sich, wie es scheint, dass die Begriffe in der einzelnen Seele so entstehen, wie die Blätter an den Bäumen und meint ihr Wesen dadurch erkennen zu können, dass man ihrer Entstehung nachforscht und sie aus der Natur der menschlichen Seele psychologisch zu erklären sucht. Aber diese Auffassung zieht Alles ins Subjective und hebt, bis ans Ende verfolgt, die Wahrheit auf. Was man Geschichte der Begriffe nennt, ist wohl entweder eine Geschichte unserer Erkenntniss der Begriffe oder der Bedeutungen der Wörter. Durch grosse geistige Arbeit, die Jahrhunderte hindurch andauern kann, gelingt es oft erst, einen Begriff in seiner Reinheit zu erkennen, ihn aus den fremden Umhüllungen herauszuschälen, die ihn dem geistigen Auge verbargen. Was soll man nun dazu sagen, wenn jemand, statt diese Arbeit, wo sie noch nicht vollendet scheint, fortzusetzen, sie für nichts achtet, in die Kinderstube geht oder sich in ältesten erdenkbaren Entwickelungsstufen der Menschheit zurückversetzt, um dort wie J. St. Mill etwa eine Pfefferkuchen- oder Kieselsteinarithmetik zu entdecken! Es fehlt nur noch, dem Wohlgeschmacke des Kuchens eine besondere Bedeutung für den Zahlbegriff zuzuschreiben. Dies ist doch das grade Gegentheil eines vernünftigen Verfahrens und jedenfalls so unmathematisch wie möglich. Kein Wunder, dass die Mathematiker nichts davon wissen wollen! Statt eine besondere Reinheit der Begriffe da zu finden, wo man ihrer Quelle nahe zu sein glaubt, sieht man Alles verschwommen und ungesondert wie durch einen Nebel. Es ist so, als ob jemand, um Amerika kennen zu lernen, sich in die Lage des Columbus zurückversetzen wollte, als er den ersten zweifelhaften Schimmer seines vermeintlichen Indiens erblickte. Freilich beweist ein solcher Vergleich nichts; aber er verdeutlicht hoffentlich meine Meinung. Es kann ja sein, dass die Geschichte der Entdeckungen in vielen Fällen als Vorbereitung für weitere Forschungen nützlich ist; aber sie darf nicht an deren Stelle treten wollen.

      Dem Mathematiker gegenüber, wäre eine Bekämpfung solcher Auffassungen wohl kaum nöthig gewesen; aber da ich auch für die Philosophen die behandelten Streitfragen möglichst zum Austrage bringen wollte, war ich genöthigt, mich auf die Psychologie ein wenig einzulassen, wenn auch nur, um ihren Einbruch in die Mathematik zurückzuweisen.

      Uebrigens kommen auch in mathematischen Lehrbüchern psychologische Wendungen vor. Wenn man eine Verpflichtung fühlt, eine Definition zu geben, ohne es zu können, so will man wenigstens die Weise beschreiben, wie man zu dem betreffenden Gegenstande oder Begriffe kommt. Man erkennt diesen Fall