»Wirst du wohl aufmachen?« tobte sie wieder drinnen. »Du durchsichtiges, zerbrechliches Ding! … Ha, ha, ha! Goldelse nennt sie der alte Brummbär den ich hasse, wie das Gift; der Alte will durchaus nicht fromm werden, er mag zur Hölle fahren, aber ich werde selig sein, selig! … Goldelse nennt er sie, weil sie bernsteingelbes Haar hat! Pfui, wie bist du häßlich, du Füchsin … Mein Haar ist schwarz, wie ein Rabenflügel. Ich bin schön, tausendmal schöner, als du! Hörst du das, du Affengesicht da draußen?«
Sie schwieg erschöpft, auch Wolf unterbrach sein Zerstörungswerk an der Schwelle.
In demselben Augenblick zog fernes Glockengeläute durch die abendstillen Wipfel des Waldes. Elisabeth wußte, was es bedeutete. Aus den Ruinen der alten Burg Gnadeck bewegte sich eben ein Leichenzug den Berg herab. Lilas sterbliche Ueberreste verließen das Haus, gegen dessen Mauern einst das schöne Zigeunerkind verzweifelnd die Stirn geschlagen hatte. Sie wurde durch den grünen Wald getragen, um deswillen vor zwei Jahrhunderten ihr Herz gebrochen war.
Auch Bertha schien den Glockentönen zu lauschen. Sie regte sich nicht.
»Sie läuten!« schrie sie plötzlich. »Komm, Wolf, wir wollen in die Kirche gehen … Sie muß droben bleiben bei den Wolken, die werden des Nachts über sie herstürzen, der Sturm reißt an ihren Haaren, und die Raben werden kommen und nach ihren Augen hacken, denn sie ist verflucht, verflucht.«
Gleich darauf begann sie das Lied wieder. Ihre schreckliche Stimme schlug grauenhaft gegen die engen Wände des Treppenhauses. Polternd lief sie hinab und trat unten aus der Thür. Sie sprang singend über den Plan, nach derselben Richtung, woher sie gekommen war, der Hund trabte nebenher. Nicht ein einziges Mal drehte sie sich um nach dem Turme; nun sie ihn im Rücken hatte, schien sie bereits nicht mehr zu wissen, daß da droben hinter dem grauen Steingeländer der Gegenstand ihres Hasses stehe. Noch einmal tauchte ihr hochroter Rock aus dem dunkelnden Gebüsch auf, dann verschwand die Gestalt samt ihrem schrecklichen Begleiter. Allmählich verhallte auch ihr Gesang und bald trug die weiche Luft nur noch das Geläute zu der Einsamen auf der Turmzinne.
Sie verließ aufatmend ihren Verteidigungsposten, den sie mechanisch noch inne behalten hatte, und griff nach dem Thürschlosse, aber der alte, eingerostete Knauf blieb so unbeweglich, wie unter Berthas Händen. Mit Schrecken entdeckte sie den vorgesprungenen Riegel, er hatte sie freilich wacker geschützt und verteidigt, indes hielt er sie auch gefangen. Er rührte sich nicht von der Stelle bei allen Versuchen und Anstrengungen; ermattet und mutlos ließ das junge Mädchen endlich die Hände sinken.
Was nun anfangen? Angstvoll dachte sie an ihre Eltern, die gewiß schon in diesem Augenblicke sich um ihr Ausbleiben beunruhigten, denn sie hatte ja selbstverständlich der Beisetzung beiwohnen wollen.
Um sie her scharten sich die gewaltigen Häuser des Waldes, hier und da noch rosig betupft von einem verblassenden, letzten Sonnenstrahle. Weit, weit da drüben schloß sich erst ein lichter Streifen an die dunkeln Massen, dort lag L. mit seinem stolzen, hochgelegenen Schlosse, dessen lange Fensterreihe eben noch einmal feurig aufblitzte und dann erlosch … Und dort türmte sich der Berg mit den Gnadecker Ruinen, aber der Wald verbarg die traute Heimat; nicht einmal die weithin sichtbare Fahnenstange war von hier aus zu entdecken.
Die Hoffnung, gesehen zu werden, gab Elisabeth sofort auf, und ihr schwacher Hilferuf, das sagte sie sich ebenfalls, mußte ungehört verhallen, denn der Turm lag ja so tief versteckt im Forste, keine belebte Fahrstraße führte in der Nähe vorüber, und wer betrat wohl bei hereinbrechendem Abende noch die stillen Wege, die kein anderes Ziel hatten, als den Nonnenturm?
Trotzdem machte sie einen Versuch und schickte einen Ruf hinaus in die Lüfte. Wie schwach klang er! Es kam ihr vor, als hätten ihn die nächsten Baumkronen eingesogen; er hatte nur einige Raben in der Nähe aufgeschreckt, die nun krächzend über dem Haupte des jungen Mädchens wegflogen, dann war es wieder still, schaurig still. Die Lindhofer Kirchenglocken waren verstummt. Im Westen glimmte ein schwaches Rot, einige kleine Wölkchen zart besäumend, der Wald aber lag bereits im tiefen Abendschatten.
Ratlos schritt Elisabeth aus dem Plateau des Nonnenturmes hin und her. Manchmal blieb sie an einer Ecke stehen, in deren Richtung das Lindhofer Schloß liegen mußte – denn das war dem Nonnenturm noch am nächsten – und erhob ihre Stimme zu erfolglosen Hilferufen. Endlich gab sie die Bemühung auf und setzte sich auf die Bank, welche, in die äußere Mauer des Treppenhauses eingefügt, von dem überstehenden Schieferdache desselben so ziemlich gegen Wind und Wetter geschützt wurde.
Sie fürchtete nicht, die Nacht hier oben zubringen zu müssen, denn es lag wohl auf der Hand, daß man sie im Walde suchen würde. Bis man sie in ihrer Haft entdeckte, welche Stunden qualvoller Ungewißheit und Befürchtungen mußten die Ihrigen durchleben!
Dieser Gedanke ängstigte sie unbeschreiblich und steigerte ihre nervöse Aufregung. Alle heute empfangenen Eindrücke waren ja so schrecklicher Art gewesen, und sie mußte alles allein, ohne jedwede Stütze, als die ihrer eigenen moralischen Kraft, durchkämpfen … Noch zitterten ihre Kniee infolge des letzten Angstmomentes … Was mochte Berthas plötzlichen Wahnsinn zum Ausbruche gebracht haben? Sie hatte von einem Herzen gesprochen, das Elisabeth ihr geraubt habe; war wirklich, wie die Mutter in der letzten Zeit öfters die Vermutung ausgesprochen hatte, Hollfeld in die dunkle Geschichte verwebt?
Bei dem Gedanken an ihn tauchten alle die schmerzlichen Empfindungen wieder auf, die ihr Inneres heute durchstürmt hatten. Jetzt aber, wo sie still und unbeweglich an die Mauer gedrückt dasaß, dem dunkelnden Himmel näher gerückt, kein Zeichen des Lebens um sich fühlend, als das Wehen der feuchten Nachtluft, die schmeichelnd über ihr heißes Gesicht strich, jetzt brach der finstere Trotz, mit welchem ihr zertretenes Herz sich zu waffnen gesucht hatte, und ihre Augen wurden feucht … Es war nun alles, alles vorüber; sie hatte heute mit den Bewohnern von Lindhof gebrochen für alle Zeiten! Helene hatte sie ihr Ideal geraubt, und Herrn von Walde, der gewähnt hatte, sie mit seiner in Gnaden gewährten Einwilligung zu beglücken, ihm hatte sie diese Gabe vor die Füße geworfen … sie hatte ohne Zweifel seinen Stolz tief verwundet. Wahrscheinlicherweise sah sie ihn nie wieder; er reiste fort und war froh, draußen den unangenehmen Eindruck los zu werden, welchen ihm das undankbare Benehmen der armen Klavierspielerin gemacht hatte.
Sie bedeckte das Gesicht mit beiden Händen, und die Thränen drangen zwischen den schmalen, weißen Fingern hervor.
Inzwischen dämmerte die Nacht herein; es wurde jedoch nicht völlig dunkel. Die schmale Mondsichel stand am Himmel, und die anderen leuchtenden Wanderer traten hervor und wandelten ihre Bahn, nicht ahnend, daß der mit ihnen im All kreisende Planet, die Erde, Millionen kleiner Welten in sich schließt, deren jede ihre Höhen und Tiefen, ihre brausenden Meereswogen mit Ebbe und Flut, ihre gewaltigen Stürme, selten aber die heilige Stille des Friedens hat.
Im Turme wurde es lebendig. Aengstliches Stöhnen und leise Klagelaute drangen herauf. Es polterte schwerfällig auf der Treppe, schlug klatschend gegen die inneren Wände und klopfte an die Thür: die Eulen und Fledermäuse wollten ihre Abendbesuche machen und suchten vergebens den gewohnten Ausweg. Auch drunten im Walde knisterte und rauschte es; das Wild brach aus dem Dickicht und schritt in vollkommener Sicherheit über die Lichtung … Aus weiter Ferne, von Osten her, da, wo der Wald fast noch in unberührter Urwüchsigkeit und Wildheit in tiefe Thäler hinabstieg und an den jenseitigen Bergen ungebändigt wieder hinaufkletterte, klang bisweilen ein schwacher Knall herüber. Elisabeth schmiegte sich dann jedesmal leise erbebend fester an die Mauer, unter das schützende Vordach, als könne irgend ein unheimliches Augenpaar von dort herüber bis zu ihr dringen; die dort jagten, hatten gebrochen mit dem Gesetze.
Noch kam keine Hilfe. Ihre Sorge, daß sich die Eltern ängstigen könnten, war sonach ganz unbegründet gewesen. Auf alle Fälle vermuteten sie die Tochter noch im Schlosse, waren vielleicht sehr ungehalten über ihr Ausbleiben und warteten möglicherweise bis um zehn Uhr auf ihre Heimkehr. So konnte Mitternacht herankommen, bis man sie erlöste.
Es wurde empfindlich kühl. Fröstelnd zog sie die leichte Mantille über die Brust zusammen und schlang das Taschentuch um den Hals. Sie sah sich genötigt, die Bank zu verlassen und auf der Plattform hin und her zu