»Sie soll nicht arm in dein Haus kommen, Emil, darauf verlasse dich,« antwortete das junge Mädchen mit weichem Tone und unnatürlich glänzenden Augen. »Von dem Augenblicke an, wo sie erklärt, die Deine sein zu wollen, ist sie meine Schwester … Ich will redlich mit ihr teilen … ich weise ihr vorläufig die Einkünfte von meinem Gute Neuborn in Sachsen zu und werde über diesen Punkt mit Rudolf sprechen, sobald er zurückkehrt … Und wenn ich die Augen schließe, so gehört euch beiden dann alles, was ich besitze … Bist du zufrieden mit mir?«
»Du bist ein Engel, Helene!« rief er. »Niemals sollst du deine Großmut und aufopfernde Liebe bereuen!«
Diesmal war sein Feuer, seine Ekstase nicht erheuchelt, denn die Einkünfte von Neuborn machten Elisabeth zu einer sehr reichen Braut.
18.
Zwei Tage waren vergangen seit dem Morgen, an welchem Helene, wie sie wähnte, den vollständigen Sieg über sich selbst errungen hatte, wo sie fest überzeugt war, der unumstößlichen Gewißheit gegenüber werde das Stürmen und Wogen ihrer aufgeregten Gefühle sich beruhigen … Wie wenig war sie im stande gewesen, die Tiefe ihrer Leidenschaft zu bemessen! Sie hatte nach einem Strohhalme in der empörten Flut gegriffen, und er war treulos mit ihr gesunken … Nur zwei Tage! … aber sie wogen ihr ganzes bisheriges Leben an Seelenschmerzen auf. Sie sagte sich unaufhörlich, daß das Ziel ihrer Tage, die heißersehnte Ruhe, nicht fern sei, und doch schauderte sie vor dem kurzen Stücke irdischen Daseins, das noch vor ihr lag, wie die nichtgläubige Seele angesichts des Grabes. Sie fühlte immer deutlicher, daß ihr Versprechen, in Odenberg leben zu wollen, ihr Opfer erst recht zu einem übermenschlichen mache; aber um keinen Preis hätte sie auch nur ein Jota von dem ändern mögen, was sie Hollfeld gelobt hatte; sie wollte seiner Liebe würdig sein, wollte seine Achtung verdienen durch die ungeheuerste Selbstüberwindung. – Arme Verblendete.
Ihr schwaches Nervenleben litt unbeschreiblich unter den fortgesetzten inneren Kämpfen. Sie fieberte beständig und wurde von einer quälenden Unruhe fast aufgerieben. Fort und fort drängte sich das, womit sich ihr ganzes Denken und Empfinden ausschließlich beschäftigte, auf ihre Lippen, aber sie schwieg pflichtschuldigst, weil Hollfeld es wünschte. Ebensowenig hatte er erlaubt, daß sie Elisabeth in den ersten Tagen zu sich berufen durfte, denn er fürchtete, vielleicht nicht mit Unrecht, sie möchte ihm in ihrer Aufregung das Spiel bei dem jungen Mädchen verderben. Er selbst hatte bereits die ersten Schritte gethan, um sich Elisabeth wieder zu nähern. Er war schon zweimal vor dem Mauerpförtchen erschienen, um »der Familie von Gnadewitz« seine Aufwartung zu machen, aber, ob er auch den Klingelgriff fast abgerissen hatte, es war ihm doch nicht aufgethan worden. Das erste Mal war in der That niemand zu Hause gewesen; gestern jedoch hatte ihn Elisabeth kommen sehen. Die Eltern waren mit Ernst im Forsthause, und Miß Mertens erklärte sich mit der Absicht des jungen Mädchens, den Besuch nicht einzulassen, völlig einverstanden. Die beiden saßen oben lachend in der Wohnstube, während die kleine Mauerglocke sich fast heiser läutete. Von diesem Komplott hatte der Untenstehende freilich keine Ahnung.
Es war sieben Uhr morgens. Helene lag bereits angekleidet auf ihrem Ruhebette; sie hatte sich die ganze Nacht schlummerlos aus ihrem Lager umhergeworfen. Die Baronin schlief noch, Hollfeld war ebensowenig sichtbar, allein sein konnte und wollte die junge Dame um keinen Preis, deshalb hatte die Kammerfrau eine Handarbeit nehmen und sich zu ihr setzen müssen. Was das Mädchen plauderte, es flog unverstanden an ihren Ohren vorüber, aber nichtsdestoweniger hatte der Klang einer menschlichen Stimme nach der einsamen, fieberhaften Nacht etwas Beschwichtigendes für sie.
Das Geräusch eines näherkommenden Wagens ließ plötzlich die Erzählerin verstummen. Helene öffnete das Fenster und bog sich hinaus. Eben verließ die zurückkehrende Equipage ihres Bruders die Chaussee, und ihre Räder sanken tief ein in den hochaufgeschichteten, knirschenden Kies des breiten Parkfahrweges. Der Wagen war leer.
»Wo ist dein Herr?« rief Helene dem Kutscher zu, als er ziemlich nahe vorüberfuhr.
»Der gnädige Herr sind auf der Chaussee ausgestiegen,« antwortete der alte Mann, seinen Hut abnehmend, »und kommen zu Fuße über den Berg, bei dem Gnadecker Schlosse vorüber.«
Die junge Dame schlug das Fenster zu und schauderte zusammen, als fröstele sie; das einzige Wort »Gnadeck« hatte ihre Nerven berührt wie ein elektrischer Schlag. Sie konnte nichts mehr hören, was sie an Elisabeth erinnerte, ohne jenen jähen Schrecken zu empfinden, den z. B. eine plötzlich erscheinende Spukgestalt unserer Einbildungskraft verursacht.
Sie erhob sich und ging, gestützt auf die Kammerfrau, hinunter in die Zimmer ihres Bruders. In dem Salon, dessen Glasthüren auf die Freitreppe mündeten, ließ sie ein Frühstück servieren und setzte sich, den Zurückkehrenden erwartend, in einen Lehnstuhl. Sie nahm eines der prachtvoll gebundenen Albums, die auf den Tischen umherlagen, auf den Schoß; mechanisch wendete ihre Hand die Blätter um, ihre Augen ruhten wohl auf den feinen Stahlstichen, aber sie hätte um alles nicht zu sagen gewußt, ob sie ein Porträt oder eine Landschaft ansehe.
Nach halbstündigem Warten erschien endlich die hohe Gestalt ihres Bruders in der Glasthür. Sie ließ das Buch von ihrem Schoße heruntergleiten und streckte dem Eintretenden die Hand entgegen. Er schien überrascht von dem Empfange, aber es berührte ihn offenbar sehr wohlthuend, die Schwester nach so langer Zeit wieder einmal allein und für seine Bequemlichkeit zärtlich besorgt zu sehen. Rasch eilte er zu ihr hin, allein ein zweiter Blick, den er auf ihr Gesicht warf, machte ihn stutzen.
»Fühlst du dich kränker, Helene?« fragte er besorgt, indem er sich neben sie setzte. Er schob seinen Arm unter ihren Rücken und hob sie sanft ein wenig höher, um besser in ihr Gesicht sehen zu können. Es lag so viel Bekümmernis und zärtliche Teilnahme in seinem Blicke und Tone, daß es ihr war, als zöge plötzlich eine milde Frühlingsluft durch ihr schmerzerstarrtes Innere. Zwei schwere Thränen rollten über ihre Wangen, und sie drückte ihr Gesicht fest an die Schulter ihres Bruders.
»Hat Fels in diesen Tagen nicht nach dir gesehen?« fragte er beklommen. Das Aussehen des jungen Mädchens versetzte ihn offenbar in heftige Sorge.
»Nein – und ich habe auch ausdrücklich befohlen, daß man ihn nicht rufen solle. Ich nehme die Tropfen, die er mir für meine Nervenanfälle verschrieben hat; mehr können er und ich nicht thun … Aengstige dich nicht, Rudolf, es wird wohl auch einmal wieder besser mit mir … du hast eine schwere Zeit in Thalleben durchmachen müssen?«
»Ja,« entgegnete er, während sein Auge noch immer ängstlich auf den merkwürdig veränderten Zügen der Schwester ruhte. »Ich fand den armen Hartwig nicht mehr am Leben; ein Schlagfluß hatte seinen unaussprechlichen Qualen rasch ein Ende gemacht … Gestern abend wurde er beigesetzt. Seine unglückliche Frau würdest du nicht wieder erkennen, Helene, sie ist über Nacht zur Matrone geworden.«
Er teilte ihr noch näheres mit über den Unglücksfall, dann strich er mit der Hand über die Augen, als wolle er damit all den Jammer, den er in den letzten Tagen gesehen, wegwischen.
»Nun, und finde ich hier alles beim alten wieder?« frug er nach einem kurzen Schweigen.
»Nicht ganz,« antwortete Helene zögernd, »Möhring hat gestern unser Haus verlassen.«
»Ah – Glück auf die Reise… . Er ist einer letzten Begegnung mit mir geschickt ausgewichen … Nun habe ich einen Feind mehr draußen in der Welt – es konnte nicht wohl anders sein, da er zu jenem unheimlichen Nachteulengeschlechte gehört, das ich verabscheue.«
»Und auf dem Berge – bei den Ferbers – ist das Glück eingekehrt,« fuhr Helene mit gepreßter Stimme und abgewendetem Gesicht in ihrem Berichte fort.
Der Fauteuil, auf welchem sie saß,