In der offenen Thür stand ein Mann in Jagduniform, eine wahre Hünengestalt mit einem ungeheuren Barte, der fast bis auf die Brust reichte. Er hielt die Hand über die Augen und blickte angestrengt nach dem näher kommenden Wagen; dann aber sprang er mit einem lauten Aufrufe die Stufen herab, riß den Wagenschlag auf und zog den herausspringenden Ferber an seine Brust … Beide Brüder hielten sich einen Augenblick schweigend in den Armen, bis der Oberförster den Angekommenen leise von sich schob und, ihn an den Schultern haltend, die ganze schmale, blasse Gestalt prüfend musterte.
»Armer Adolph!« sagte er endlich, und die tiefe Stimme klang bewegt. »So hat dich das Schicksal zugerichtet? Na, warte nur, du sollst mir hier gesund werden, wie ein Fisch im Wasser … noch ist alles wieder gutzumachen … Sei mir tausendmal willkommen! Und nun wollen wir auch zusammenhalten, bis das große Halali geblasen wird, wo wir freilich nicht gefragt werden, ob wir bei einander bleiben wollen oder nicht.«
Er suchte seine Rührung zu beherrschen und half seiner Schwägerin und dem kleinen Ernst, den er herzte und küßte, aus dem Wagen.
»Nun,« sprach er, »ihr seid früh aufgebrochen, das muß ich sagen – passiert sonst nicht, wenn Weibsleute dabei sind.«
»Was denkst du denn von uns, Onkel?« rief Elisabeth. »Wir sind keine Schlafmützen und wissen recht gut, wie die Sonne aussieht, wenn sie der Erde ihren ersten Morgenbesuch macht.«
»Heisa!« rief überrascht und laut lachend der Oberförster, »was räsoniert denn da hinten in der Wagenecke? … Na, komm heraus, kleine Krabbe!«
»Ich klein? … Nun, Onkelchen, du wirst dich schön wundern, wenn ich erst aussteige, was für ein großes Mädchen ich bin!« Mit diesen Worten sprang Elisabeth auf den Boden und stellte sich, alle Glieder möglichst streckend, auf die Zehen neben ihn. Allein, obgleich ihre schlanke, leicht aufgebaute Gestalt die Mittelgröße überschritt, so sah es dennoch in diesem Augenblicke aus, als wolle sich die zierliche Bachstelze mit dem gewaltigen Adler messen.
»Siehst du,« sagte sie ein wenig kleinlaut, »ich reiche doch beinahe bis an deine Schulter, und das ist für ein respektables Mädchen mehr als genug.«
Der Onkel sah, sich kerzengerade haltend, mit schalkhaftem Blicke und vergnügt in sich hineinlachend, einen Augenblick seitwärts auf sie nieder; dann aber hob er sie plötzlich wie eine Feder vom Boden auf und trug sie unter dem Gelächter der anderen auf seinem Arme in das Haus, wo er mit wahrer Donnerstimme schrie:
»Sabine, Sabine, komm hierher, ich will dir zeigen, wie in B. die Zaunkönige aussehen!«
Im Hausflur setzte er die Erschrockene sacht und vorsichtig wie ein zerbrechliches Spielzeug nieder, nahm ihren Kopf sanft zwischen seine beiden großen Hände, küßte sie wiederholt auf die Stirn und rief. »Solch ein Liliput, solch eine Mondscheinprinzessin meint so groß zu sein wie ihr großer Onkel … Kleine Waldhexe, du kannst freilich wissen, wie die Sonne aussieht, hast ja den Kopf voll Sonnenstrahlen!«
Dem jungen Mädchen war infolge des Sturmschrittes, den der Onkel bei der Entführung angenommen, der Hut vom Kopfe gefallen, wobei eine außergewöhnliche Fülle blonden Haares sichtbar wurde, dessen klarer Goldglanz um so mehr auffallen mußte, als ihre sehr schön gezeichneten Augenbrauen und die langen Wimpern tiefschwarz waren.
Aus einer Seitenthür war indessen eine alte Frau getreten, und oben am Treppengeländer des ersten Stockwerkes zeigten sich einige Männergesichter, die jedoch schnell wieder verschwanden, als der Oberförster hinaufblickte. »Na, lauft nur nicht davon, gesehen hab ich euch nun schon einmal!« rief er lachend. »Es sind meine Burschen,« wendete er sich zu seinem Bruder, »die Kerls sind neugierig wie die Spatzen; nun, heute mag ich’s ihnen nun gerade nicht verdenken!« meinte er schelmisch lächelnd mit einem heimlichen Seitenblicke auf Elisabeth, die abgewendet, ihre gelösten Flechten wieder um den Kopf schlang. Dann nahm er die alte Frau bei der Hand und führte sie in feierlich-komischer Weise folgendermaßen vor:
»Jungfer Sabina Holzin, Minister der inneren Angelegenheiten des Hauses, hohe Polizei für alles, was in Hof und Stall des Forsthauses sich des Lebens freut, und endlich unumschränkte Herrscherin im Küchendepartement … Bringt sie das Essen auf den Tisch, so folgt getrost ihrem Winke, denn ihr geht einen guten Weg, läßt sie sich aber bedrohlicher Weise an, ihre Sagen und Geistergeschichten auszukramen, so lauft, was ihr laufen könnt, denn da gibt’s kein Ende … Und nun,« wandte er sich zu der lachenden Alten, die eigentlich grundhäßlich war, trotzdem aber durch einen Zug von Schelmerei und Humor um Mund und Augen, durch ihren treuherzigen Blick und mittels der fleckenlosen Sauberkeit ihres Anzuges sofort alle für sich einnahm, »bringe schnell, was Küche und Keller vermögen. Hast ja deshalb die Pfingstkuchen früher gebacken, damit die Reisenden gleich was Frisches einzubrocken hätten.«
Damit zeigte er nach der Küche und öffnete zugleich die Thür einer geräumigen, hellen Eckstube. Alle traten ein, nur Elisabeth konnte nicht unterlassen, noch einen Blick durch die große Thür zu werfen, die nach dem Hofe führte; denn durch das weiße Staket, das den weiten, von Geflügel aller Art bevölkerten Raum auf zwei Seiten umschloß, leuchteten farbige Blumenbeete, und einige spätblühende Aepfelbäume streckten ihre rosenfarbenen Zweige weit in den Hof herein. Der Garten war groß, stieg terrassenartig den Berg hinauf und nahm noch einige Vortruppen des Waldes, eine schöne Gruppe alter Buchen, mit in sein Bereich. Während Elisabeth wie angefesselt sinnend im Hausflur lehnte, wurde die Thür eines Seitenflügels geöffnet, und ein junges Mädchen trat heraus. Es war auffallend hübsch, wenn auch fast zu klein von Gestalt, was, wie es schien, die Natur wieder auszugleichen gesucht hatte durch die weitgeöffneten großen Augen, die wie prächtige Sonnen flammten. Das üppige, dunkle Haar war mit unverkennbarer Koketterie aufgenestelt und ließ einige zartgekräuselte Löckchen auf die plastisch geformte, bleiche Stirn fallen. Auch der Anzug, obschon sehr einfach im Stoffe, zeigte eine fast peinliche Sorgfalt im Arrangement, und der aufmerksame Beobachter konnte mit dem besten Willen nicht annehmen, daß man das Oberkleid lediglich aus Schonung der Saumes in so ziemlichen Falten aufgesteckt habe; denn zwei reizend geformte Füßchen hatten eine auffallend feine Toilette gemacht, die sicher nicht bestimmt war, unter dem langen Wollkleide zu verkümmern.
Das junge Mädchen hielt eine Mulde mit Getreidekörnern im Arme und warf davon eine Handvoll auf das Pflaster. Alsbald entstand ein großer Lärm, von den Dächern stürzten sich die Tauben, die Hühner verließen unter lautem Gegacker Stangen und Nester, und der Hofhund glaubte bei dem allgemeinen Aufstande sich auch mit einem lauten Gebelle beteiligen zu müssen.
Elisabeth war überrascht. Der Onkel war zwar verheiratet gewesen, hatte aber nie Kinder gehabt, das wußte sie genau; wer also war das junge Mädchen, das er nie in einem seiner Briefe erwähnt hatte? … Sie ging die Stufen hinab, die nach dem Hofraume führten, und trat der jungen Fremden einige Schritt näher. »Gehören Sie auch ins Forsthaus?« fragte sie freundlich.
Die schwarzen Augen hefteten sich fast stechend auf die Fragerin und drückten einen Augenblick unverkennbar große Ueberraschung aus; dann erschien ein Zug von Hochmut um die feinen Lippen, die sich noch fester aneinander zu schließen schienen als vorher; die Augenlider fielen bald über die glänzenden Augen, welche sich abwendeten, und ruhig und schweigsam, als wisse sie gar nicht, daß jemand neben ihr stehe, fuhr sie fort, die Körner in den Hof zu werfen.
In dem Augenblick ging Sabine, das Kaffeebrett auf dem Arme, an der Hofthür vorüber. Sie winkte der tiefbetroffenen Elisabeth, und als diese näher kam, faßte sie ihre Hand und zog sie in das Haus, indem sie sagte. »Kommen Sie, Kindchen, das ist nichts für Sie.«
In dem Wohnzimmer fand Elisabeth alle schon so gemütlich und vertraut zusammen, als hätte man tagtäglich bei einander gesessen. Die Mutter hatte in einem bequemen Lehnstuhle Platz genommen, den ihr der Oberförster an das Fenster gerückt hatte, und von wo aus sie einen lieblichen Fernblick durch den Wald genoß. Eine große getigerte Katze war vertraulich auf ihren Schoß gesprungen und ließ sich mit sichtbarem Behagen das Streicheln der sanften Hand gefallen. Für den kleinen Ernst aber waren die vier Wände des Zimmers eine wahre Fundgrube aller möglichen interessanten Dinge. Er kletterte von Stuhl zu Stuhl und stand eben in wortloser Bewunderung