Herr von Walde drang durch den Rest von Gestrüpp, der ihn von den beiden trennte.
»Sind Sie verletzt?« fragte er rasch und heftig Elisabeth.
Sie schüttelte mit dem Kopfe. Ohne ein Wort weiter zu sagen, hob er sie vom Boden auf und trug sie nach einem umgestürzten Baumstamme, wo er sie niederließ. Miß Mertens setzte sich zu ihr und lehnte den Kopf des jungen Mädchens an ihre Schulter.
»Nun sagen Sie mir, was geschehen ist,« sagte Herr von Walde zur Gouvernante.
»Nein, nein,« rief Elisabeth angstvoll, »nur hier nicht, wir wollen gehen; der Mörder ist entkommen; er lauert vielleicht im nächsten Gebüsche und führt sein Vorhaben doch noch aus!«
»Linke wollte Sie ermorden, Herr von Walde,« sagte Miß Mertens mit zitternder Stimme.
»Der Elende! Der Schuß galt also mir,« entgegnete er ruhig, ohne das mindeste Anzeichen von Bestürzung. Er ging hierauf tief in das Gebüsch, durch welches, nach Miß Mertens’ Angabe, Linke entflohen war. Elisabeth zitterte, als er im Dickicht verschwand, und war eben im Begriffe, alle Selbstbeherrschung zu verlieren und ihm nachzuspringen, als er zurückkehrte.
»Sie können ruhig sein,« sagte er zu dem jungen Mädchen; »es ist keine Spur von ihm zu entdecken, der schießt heute sicher nicht zum zweitenmal … Nun erzählen Sie mir den Vorfall, Miß Mertens.«
Sie war, wissend, daß Elisabeth heute über das Dorf zurückkehre, ihr auf dem schmalen Waldwege entgegengegangen. Langsam vom Berge niedersteigend, hatte sie dieselbe Entdeckung gemacht, wie das junge Mädchen. Die Absicht des Erbärmlichen war ihr sofort klar geworden, aber der Schrecken hatte sie dergestalt übermannt, daß sie im ersten Augenblicke weder Zunge noch Fuß zu bewegen vermochte. So hatte sie in tödlicher Angst wie eingewurzelt gestanden, als plötzlich Elisabeth, die sie vorher nicht gesehen, hinter dem Mörder erschienen war. Im Entsetzen über die Gefahr, in welche sich das junge Mädchen begeben, war ihr der Hilferuf entflohen, den man mit dem Schusse zugleich gehört hatte … Sie erzählte dies alles in fliegenden Worten. »Wo nahmen Sie nur den Mut her, Elisabeth,« sagte sie schließlich, »den Menschen zu packen? … Ich schauderte schon bei dem bloßen Gedanken an die Berührung und hätte es sicher beim Schreien bewenden lassen.«
»Wenn ich schrie,« entgegnete Elisabeth einfach, »dann konnte eine unwillkürliche Bewegung Linkes infolge des Schreckens das Unglück gerade herbeiführen.«
Herr von Walde hörte der Schilderung mit großer Ruhe und Aufmerksamkeit zu. Nur als Miß Mertens beschrieb, wie Elisabeth den Mörder mit Blitzesschnelle gefaßt hatte, wechselte er jäh die Farbe und warf einen langen, ängstlich forschenden Blick auf das junge Mädchen, als wolle er sich versichern, daß es auch wirklich unverletzt aus der Gefahr hervorgegangen sei … Er bog sich zu ihr nieder, nahm ihre Rechte und führte sie an seine Lippen; sie fühlte dabei ein leises Beben seiner Hand.
Miß Mertens, welche bemerkte, daß diese Dankesäußerung Elisabeth sehr verlegen machte und ihr eine Purpurglut auf die Wangen trieb, verließ ihren Platz, hob die Pistole vom Boden auf, die Linke auf seiner Flucht von sich geworfen hatte, und gab sie Herrn von Walde.
»Abscheulich!« murmelte er. »Der Elende hat sich auch noch einer Waffe bedient, die mir gehört.«
Elisabeth erhob sich jetzt auch und versicherte auf Miß Mertens’ Befragen, daß sie von den Wirkungen des Schreckens ganz und gar nichts spüre und den Rückweg antreten könne. Beide wollten sich von Herrn von Walde verabschieden; allein er band sein Pferd an der verhängnisvollen Buche noch fester an und sagte in scherzhaftem Tone. »Linke ist, wie wir uns heute überzeugt haben, sehr rachsüchtiger Natur; es dürfte leicht sein, daß er meine Lebensretterin noch grimmiger haßt, als mich selbst … ich kann nicht zugeben, daß Sie ihm ohne männlichen Schutz begegnen.«
Sie stiegen den Berg hinauf. Miß Mertens eilte voraus, um auch Herrn von Walde zur Eile anzutreiben, denn es mußten ja doch Schritte zur Verfolgung des Verbrechers geschehen; allein ihre Bestrebungen waren umsonst. Er schritt langsam und schweigend neben Elisabeth, die eine Zeitlang mit sich kämpfte, endlich aber in leisem, verzagtem Tone ihn bat, er möge jetzt nicht wieder allein zu seinem Pferde zurückkehren, sondern dasselbe holen lassen.
Er lächelte. »Mein Belisar ist wild und eigensinnig, Sie kennen ihn ja,« sagte er. »Er geht nur mit mir und würde es sehr übel vermerken, wenn ihn ein anderer, als sein Herr, nach Hause bringen wollte … Jener feige Mensch wird übrigens, wie ich Ihnen schon gesagt habe, heute auf keinen Fall einen zweiten Angriff gegen mich wagen … Nun, und wenn auch, ich bin ja gefeit! … Ist nicht heute ein guter Stern über mir aufgegangen!«
Er blieb stehen. »Was meinen Sie,« fragte er plötzlich mit gedämpfter Stimme, während sein Auge aufleuchtete und das ihre forschend suchte, »soll ich wohl den entzückenden Wahn festhalten, daß er mich durch mein ganzes Leben begleiten werde?«
»Wenn Sie Wagestücke in diesem Sinne ausführen wollen, dann ist es freilich besser, Ihr Glaube an jenen Stern ist kein so unbedingter.«
»Das größte Wagestück war wohl dieser augenblickliche Wahn selbst,« murmelte er für sich, während ein finsterer Schatten über sein Gesicht flog.
»Ich verstehe Sie nicht,« sagte Elisabeth erstaunt.
»Das ist ganz natürlich,« entgegnete er bitter, »Ihr Denken und Wünschen hat ja eine ganz entgegengesetzte Richtung … Bei aller Strenge gegen sich selbst begegnet es einem doch manchmal, daß man sich von einem lieblichen Traume begleichen läßt … Nein, nein, sagen Sie nichts mehr! … ich bin ja schon bestraft, denn ich wache.«
Jetzt beschleunigte er seine Schritte und ging nun an Miß Mertens’ Seite, während Elisabeth stumm folgte und sich den Kopf darüber zerbrach, warum er wohl so plötzlich wieder in jenen rauhen Ton verfallen war, der sie stets so tief verletzte. Er sprach kein Wort mehr, und als endlich die Mauern des alten Schlosses durch die Büsche blickten, empfahl er sich in auffallend kurzer und knapper Weise und schritt rasch den Berg wieder hinunter.
Miß Mertens sah ihm erstaunt nach. »Sonderbarer Mann!« sagte sie endlich und schüttelte den Kopf. »Und wenn auch wirklich das Leben für ihn sehr wenig Wert hat, wie ich in diesem Augenblicke annehmen muß, so meine ich doch, wäre ein Wort des Dankes beim Auseinandergehen nicht gerade überflüssig gewesen, wenn man bedenkt, daß Sie Ihr Leben um seinetwillen in Gefahr gebracht haben.«
»Ich sehe diese Notwendigkeit durchaus nicht ein,« entgegnete Elisabeth. »Sie legen überhaupt meinem Anteil bei dem Vorfalle viel zu viel Gewicht bei … Ich habe einfach eine Pflicht gegen den Nächsten erfüllt, und würde,« fügte sie mit einem eigentümlichen Trotze in Ton und Gebärden hinzu, »ganz ebenso gehandelt haben, wenn der Fall ein umgekehrter, und Linke der Bedrohte gewesen wäre … Es ist mir sehr erwünscht, daß auch er die Sache in der Weise auffaßt; denn bei seinem Hochmute müßte ihm das Gefühl einer nicht einzulösenden Verbindlichkeit einem anderen menschlichen Wesen gegenüber jedenfalls ein höchst peinliches werden, ich aber möchte um alles dieses Wesen nicht sein.«
In diesem Augenblicke stritten zärtliche Angst und Bitterkeit in ihr. Sie verfolgte in Gedanken den Hinabsteigenden Schritt um Schritt und schüttelte sich vor Entsetzen, wenn sie dachte, er gehe vielleicht gerade jetzt an der Stelle vorüber, wo der Rachedürstende auf ihn lauere … dann meinte sie, indem sie hastig vorwärts schritt, es sei doch recht thöricht, alles Denken und Empfinden an einen Mann zu verschwenden, der ihr geflissentlich die rauheste Seite seines Wesens zeige … Selbst der Baronin gegenüber, die ihm doch in tiefster Seele zuwider war, verlor er keinen Augenblick seine Ruhe, setzte er nie die Formen der allgemeinen Höflichkeit aus den Augen, wenn er ihr auch seine Ueberzeugung stets ungescheut ins Gesicht sagte. Seine ganze Umgebung kannte ihn nicht anders, als von dem Nimbus der Ruhe und Würde umgeben; nur im Gespräch mit ihr hielt er es nicht der Mühe wert, sich zu beherrschen … Wie heftig konnte er da werden! Wie flammten seine Augen auf und hingen mit verzehrender Ungeduld an ihren Lippen, wenn sie nicht rasch oder bestimmt genug antwortete! … Dabei verlangte er, sie solle ihn womöglich schon verstehen, noch bevor er gesprochen, und doch war er ihr noch völlig unverständlich, wenn er fertig zu sein