»Sie werden doch nicht hingehen!« flüsterte sie heftig. »Das leide ich nicht, sie ist im stande und stößt mit dem Messer nach Ihnen.«
»Aber sie ist grenzenlos unglücklich. Es gelingt mir vielleicht doch, sie zu überzeugen, daß mich nur das innigste Mitgefühl zu ihr führt.«
»Nein, nein… . Nun, Sie sollen gleich sehen, wie weit man mit ihr kommt.«
Sabine schritt die Stufen hinab in den Hof. Bertha ließ sie herankommen, ohne die Augen aufzuschlagen.
»Fräulein Elisabeth hat ihn gefunden,« sagte Sabine, Bertha den Hut hinhaltend; dann legte sie ihre Hand auf die Schulter des jungen Mädchens und fuhr freundlich fort: »sie möchte Ihnen gern einige Worte sagen.«
Bertha fuhr auf, als sei ihr eine tödliche Beleidigung widerfahren. Sie schüttelte wild die Hand von sich, und ihr Auge richtete sich zornig auf die Stelle, wo sich Elisabeth befand, ein Beweis, daß sie die Anwesenheit des jungen Mädchens längst bemerkt hatte. Sie warf das Messer auf den Tisch, stieß mit einer ihrer heftigen Bewegungen den Korb zu ihren Füßen um, so daß die Bohnen nach allen Seiten hin auf das Pflaster flogen, und ging in das Haus. Man hörte durch das offene Fenster, wie sie droben in der Stube die Thür zuschlug und den Riegel vorschob.
Elisabeth war stumm vor Ueberraschung, aber auch vor Schmerz. Sie wäre der Unglücklichen so gerne näher getreten, doch jetzt sah sie, daß sie den Gedanken daran aufgeben mußte.
Seit einer Woche ging sie täglich hinunter ins Schloß. Fräulein von Walde hatte sich merkwürdig schnell erholt seit jenem Nachmittage, wo sie, wie die Baronin zärtlich betonte, Heilung in dem von ihr eigenhändig bereiteten Kaffee gefunden hatte, und wo Herr von Hollfeld angekommen war. Sie übte aus allen Kräften einige vierhändige Musikstücke und vertraute Elisabeth endlich an, daß in die letzten Tage des August das Geburtsfest ihres Bruders falle; sie wolle dasselbe diesmal ganz besonders verherrlichen, weil sie mit ihm die glückliche Rückkehr des Vielgereisten zu feiern gedenke. An diesem Tage sollte er sie zum erstenmal nach langer Zeit wieder spielen hören; sie wußte, daß sie ihn damit freudig überraschen würde.
Elisabeth sah diesen Uebungsstunden stets mit einem Gemisch von Freude, Angst und Widerwillen entgegen … Sie wußte selbst nicht warum, aber Schloß und Park waren ihr plötzlich lieb und vertraut geworden; ja, sie fühlte sogar für jene Bank, auf der sie mit Herrn von Walde gesessen hatte, eine Art zärtlicher Zuneigung, wie für einen alten Freund, so daß sie stets, um an derselben vorüberzukommen, einen kleinen Umweg machte … Angst und Widerwillen dagegen flößte ihr Herrn von Hollfelds Benehmen ein. Nachdem sie einigemal seine Versuche, ihr in den Weg zu treten, durch schleuniges Ausweichen vereitelt hatte, kam er eines Tages ohne weiteres auf Fräulein von Waldes Zimmer und bat um die Erlaubnis, der Stunde beiwohnen zu dürfen. Zu Elisabeths Schrecken versicherte ihm Helene mit freudestrahlenden Augen, sie heiße ihn doppelt willkommen … Er erschien nun beharrlich jedesmal, legte stillschweigend bei seinem Kommen einige frischgepflückte Blumen vor Helene auf das Klavier nieder, infolgedessen sie konsequent verschiedene falsche Akkorde griff, und setzte sich in eine Fensterecke, von wo aus er den Spielenden gerade in das Gesicht sehen konnte. Er hielt, solange musiziert wurde, die Hand über die Augen, als wolle er sich gänzlich den Eindrücken der Außenwelt entziehen, um im Reiche der Töne zu versinken. Elisabeth bemerkte jedoch sehr bald zu ihrem Verdrusse, daß er sein Gesicht nur so weit bedecke, als er von Helene gesehen werden konnte; hinter der vorgehaltenen Hand starrte er unausgesetzt zu ihr selbst hinüber und verfolgte jede ihrer Bewegungen. Sie erbebte unter diesen Augen, die, sonst so nichtssagend und leer, ihr gegenüber stets in einem eigentümlichen Feuer aufglühten, so daß sie oft die größte Selbstbeherrschung nötig hatte, um unbeirrt weiter zu spielen.
Helene hatte augenscheinlich keine Ahnung von der Hinterlist, mit welcher Hollfeld seinen Zweck zu erreichen suchte. Sie machte öftere Pausen und unterhielt sich lebhaft mit ihm, das heißt sie sprach dann fast immer allein und meist sehr hübsch. Jede seiner einsilbigen Antworten, so banal und gewöhnlich wie sie waren, nahm sie auf wie eine Gunst, wie einen Orakelspruch, dessen Sinn man stets tiefer zu suchen habe.
Wenige Minuten vor dem Schlusse der Stunden entfernte er sich stets. Gleich das erste Mal jedoch hatte ihn Elisabeth beim Nachhausegehen bemerkt, und zwar durch eines der Korridorfenster im ersten Stocke, von wo aus man einen bedeutenden Teil des Parkes überblicken konnte, wie er wartend vor dem Waldwege auf und ab ging, den sie passieren mußte. Sie durchkreuzte seinen Plan, nicht ohne heimliches Lachen, indem sie Miß Mertens besuchte, und sich über eine Stunde bei ihr aufhielt. Dort wurde sie stets mit offenen Armen aufgenommen und gewann die Gouvernante allmählich so lieb, daß sie zuletzt gar nicht mehr an deren Thür vorbeigehen mochte, ohne auf ein Plauderstündchen einzukehren.
Miß Mertens war meist traurig und niedergeschlagen. Sie fühlte, daß ihr Bleiben in Lindhof immer unmöglicher wurde. Die Baronin, ihrer Herrschermacht und der damit verknüpften Thätigkeit plötzlich enthoben, langweilte sich jetzt öfter bis zum Sterben. Ihren Verwandten gegenüber mußte sie die Maske der Harmlosigkeit und Zufriedenheit vornehmen, was ihr wohl herzlich sauer werden mochte, sie war also gezwungen, ihre üble Laune hinter den verschlossenen Thüren ihrer Appartements zu lassen, dort aber wurde sie nachgerade unerträglich; nicht für Bella, denn dem Kinde gegenüber, in welchem sie bereits mehr die geborene Baronesse, als ihre Tochter sah, ließ sich die Dame nie zu Ausschreitungen hinreißen; vor ihrer alten Kammerfrau aber hatte sie, man wußte nicht warum, »einen heillosen Respekt«, wie der Hausverwalter Lorenz sich ausdrückte, und der niederen Dienerschaft durfte sie nicht zu nahe treten, ohne den Herrn des Hauses heranzufordern; mithin wurde all der verbissene Groll gegen die unglückliche, wehrlose Gouvernante geschleudert.
Um ihr Opfer recht gründlich zu quälen, befahl die Dame, daß die Unterrichtsstunden von nun an unter ihrer höchsteigenen Aufsicht stattfinden sollten. In Gegenwart der Schülerin wurde die Methode der Lehrerin vom ersten Momente an unausgesetzt getadelt. Man wunderte sich jetzt durchaus nicht mehr, daß das Kind bei dem Unterricht nicht vorwärts komme, auch mußten ja die Nerven der Kleinen in steter Aufregung sein, denn Miß Mertens hatte beim Dozieren die widerlichste Stimme von der Welt; und wie sollte Bella jemals graziös werden, wenn sie immer die eckigen Bewegungen vor Augen haben mußte, mit denen ihre Gouvernante das Buch hielt, die Blätter umwendete u. s. w.? In der Geschichte zeigte Miß Mertens hier zu sentimentale, dort fast lächerlich spießbürgerliche Anschauungen und war bisweilen sogar so maßlos unverschämt, eine freie Ansicht zu haben. In solchen Fällen wurde die Stunde förmlich unterbrochen; die Frau Baronin setzte sich auf den Lehrstuhl, und die Gouvernante mußte eine mit Hohn, aristokratischem Hochmut und Bosheit gesättigte Vorlesung in Devotion anhören. Fühlte sich die Dame nicht sattelfest genug, so wurde Herr Kandidat Möhring zu diesem Gerichte herbeigerufen. Die Nadelstiche ihrer eigenen Vorträge aber verschwanden neben dieser Grausamkeit, die alle bisher unterdrückten Predigten, alle heimlich verschluckte Galle des vermeintlichen Märtyrers in einem unabsehbaren Redestrome auf die bedauernswürdige Gouvernante herabbeschwor. Die Baronin wußte, daß der Kandidat ein abscheuliches Französisch sprach; gleichwohl wurde er gebeten, solange er noch im Schlosse Lindhof sei, den Sprachstunden beizuwohnen, um die Aussprache der Lehrerin zu korrigieren … Wie Bella dabei fuhr, das kam bei solchen Anwandlungen von Bosheit nicht in Betracht.
Gar