Nach dieser Schilderung verspürte Reinhard, wie er sich ausdrückte, weiter keinen Appetit, in den Ruinen umherzuwandeln. Desto mehr interessierte ihn der Zwischenbau, und auf diese Aeußerung hin erhob sich Ferber, um seinen Gästen die Wohnung zu zeigen. Zuerst aber wurde der hinter ihnen liegende Damm bestiegen. Ferber war sehr geschickt und thätig, er benutzte jede freie Stunde zur Verschönerung seines neuen Besitztums. Die Stufen, die auf die Höhe des Dammes führten, hatte er eigenhändig ausgebessert, sie hoben sich jetzt weiß und glatt von der geschorenen Rasendecke ab, welche duftig grün die Schrägseite des Erdaufwurfes bedeckte. Droben das ziemlich breite Plateau war mit frischem Kiese bestreut, und in der Mitte desselben, dicht an dem Gezweige der Linden, die sich unten über dem Bassin wölbten, stand eine Gruppe selbstgezimmerter weißer Gartenmöbel.
Während die Gesellschaft an der Brüstung lehnte und den sehr beschränkten, aber lieblichen Blick über den hier ziemlich steil abfallenden Berg hinweg in das Thal genoß, erzählte Elisabeth die Geschichte von Sabines Urahne; denn ohne Zweifel war der Damm der Schauplatz des Ereignisses gewesen.
»Brr!« sagte Reinhard, sich schüttelnd. »Ich danke für einen solchen Luftsprung. Die Mauer ist hoch, und wenn ich mir da, wo jetzt die grüne Moosdecke liegt, das trübe, schlammige Wasser eines Schloßgrabens voller Frösche und Kröten denke, da ist mir der Entschluß, hinabzuspringen, geradezu unfaßlich.«
»Nun,« sagte Miß Mertens, »die Verzweiflung hat manchen auf noch gräßlichere Weise den Tod suchen lassen.«
In dem Augenblicke war es Elisabeth, als hafte auf ihrem Gesichte abermals der Blick voll Glut und Leidenschaft, mit welchem Hollfeld gestern auf sie zugeeilt war … sie gedachte des Abscheues, den sie bei seiner Berührung empfunden hatte, und meinte innerlich, es sei nicht so schwer, sich in den Zustand der Verfolgten zu denken.
»Na, Kind,« weckte sie der Onkel aus ihrem Nachsinnen, »willst du da drunten das Gras wachsen hören, weil du so lautlos stehen bleibst!«
Vor seinen klaren Augen und der kräftigen, biederen Stimme verflog im Nu das Grauen. »Nein, Onkel,« entgegnete sie lachend, »den Versuch will ich doch lieber bleiben lassen, wenn ich mir auch einbilde, für das Leben und Weben in der Natur ganz besondere Augen und Ohren zu haben.«
Er nahm sie bei der Hand und führte sie den anderen nach, die eben das Haus betraten. Oben an der Treppe kam Bella auf Miß Mertens zugelaufen; sie hatte in der einen Hand verschiedene Bilderbücher, und mit der anderen zog sie ihre Gouvernante in Elisabeths Zimmer.
»Denken Sie sich, Miß Mertens, hier oben sieht man doch unser Schloß!« rief sie. Der Begriff vom Eigentumsrechte in dieser Richtung hin saß fest in ihrem Köpfchen; kein Wunder, die Art und Weise, wie die Mama das Zepter bisher geführt hatte, ließen ja selbst die Erwachsenen nicht im Zweifel, daß sie sich als die unumschränkte Herrin in Lindhof ansehe. »Sehen Sie dort unten den Weg?« fuhr Bella lebhaft fort, »da ist eben Onkel Rudolf vorübergeritten. Er hat mich erkannt und mir mit der Hand zugewinkt; die Mama wird froh sein, daß er wieder gut mit mir ist.«
Miß Mertens ermahnte sie, nun aber auch hübsch artig zu bleiben, jetzt aber Hut und Mantel zu holen, denn es sei Zeit aufzubrechen.
Elisabeth und Ernst begleiteten sie bis an den Park.
»Wir haben uns zu lange aufgehalten,« bemerkte Miß Mertens mit besorgtem Gesichte, als sie am Mauerpförtchen von Ferbers Abschied genommen hatte und heraus auf die Waldblöße trat. »Ich mache mich für heute noch auf Sturm und böses Wetter gefaßt.«
»Sie meinen, die Baronin werde ungehalten sein über Ihr langes Ausbleiben?«
»Ohne Zweifel.«
»Nun, lassen Sie sich dies trotz alledem nicht reuen … Wir haben jedenfalls einen reizenden Nachmittag verlebt,« meinte Reinhard heiter.
Die Kinder waren Hand in Hand vorausgegangen und verschwanden hier und da seitwärts im Gebüsche, um Blumen zu suchen. Hektor, der seinem Herrn untreu geworden war und sich der Gesellschaft angeschlossen hatte, sprang lustig mit ihnen hin und her, wobei er jedoch nicht unterließ, dann und wann zu Elisabeth – der Dame seines Herzens, wie der Onkel immer sagte – zurückzukehren, um sich den Kopf streicheln zu lassen.
Plötzlich stutzte er und blieb mitten im Wege stehen. Man war bereits in der Nähe des Parkes; durch das Gebüsch schimmerte das leuchtende Grün der Rasenflächen herauf, und das Plätschern der nächsten Fontäne wurde hörbar. Hektor hatte etwas entdeckt, und das war eine weibliche Gestalt, die mit hastigen Schritten den Hinabwandelnden entgegenkam. Elisabeth erkannte sie sogleich als die stumme Bertha, obgleich ihr die ganze Erscheinung merkwürdig verändert erschien.
Das junge Mädchen mußte keine Ahnung von der Nähe anderer haben, denn sie gestikulierte im Weiterschreiten heftig mit den Armen; eine dunkle Röte bedeckte ihre Wangen, die Augenbrauen waren wie im tiefsten Seelenschmerze zusammengezogen, und die Lippen bewegten sich im leisen Selbstgespräche. Das weiße, blumengeschmückte Hütchen war von den Flechten herabgesunken und hing mittels der Bänder am Halse; infolge der heftigen Bewegungen jedoch lösten sich auch diese, und es fiel auf den Boden, ohne daß die Eigentümerin es bemerkte.
Sie lief vorwärts, und erst in dem Augenblicke, als sie dicht vor Elisabeth stand, schlug sie die Augen auf. Entsetzt, als habe sie auf eine Natter getreten, fuhr sie zurück. In dem Momente aber auch verwandelte sich ihr schmerzlicher Gesichtsausdruck in den der tiefsten Erbitterung. Ihre Augen sprühten Haß, ihre Hände ballten sich krampfhaft, während ein zischender Laut über die Lippen glitt; es sah aus, als wolle sie sich wütend auf das junge Mädchen stürzen … Reinhard stand sofort neben Elisabeth und zog sie einen Schritt zurück. Als Bertha ihn erblickte, stieß sie einen leisen Schrei aus und rannte blindlings in das Gebüsch, durch welches sie sich gewaltsam Bahn brach, obgleich ihre Kleider an den Dornen hängen blieben und niederhängende Aeste gegen ihre Stirn schlugen … in wenig Augenblicken war sie im Dickicht verschwunden.
»Das war ja die Bertha aus dem Forsthause!?« rief Miß Mertens erstaunt. »Was muß ihr geschehen sein?«
»Ja, was mag vorgefallen sein?« wiederholte Reinhard. »Die junge Person war in einer furchtbaren Aufregung, schien aber erst in die höchste Wut zu geraten bei Ihrem Anblicke,« wandte er sich an Elisabeth. »Sie ist Ihnen verwandt?«
»Eigentlich nicht,« entgegnen das junge Mädchen, »denn sie steht nicht einmal meinem Onkel in dieser Beziehung sehr nahe. Ebensowenig ist sie mir bekannt. Sie hat meine Nähe von Anfang an konsequent gemieden, obgleich ich einen freundschaftlichen Verkehr mit ihr eine Zeitlang sehr gewünscht habe … Es ist klar, daß sie mich haßt, aber ich weiß nicht, weshalb; das müßte mich eigentlich betrüben, allein ihr Charakter gefällt mir zu wenig, als daß ich einen besonderen Wert auf ihre Gesinnung gegen mich legen möchte.«
»Zum Henker auch, Kindchen, da ist nicht allein mehr von Gesinnung die Rede! … Die kleine Furie hätte Sie am liebsten mit den Zähnen zerrissen.«
»Ich fürchte mich nicht vor ihr,« erwiderte Elisabeth lächelnd.
»Nun, ich möchte Ihnen doch zur Vorsicht raten,« meinte Miß Mertens. »Die kleine Person hat etwas Dämonisches in ihrer Erscheinung … wo mochte sie nur herkommen?«
»Allem Anscheine nach aus dem Schlosse,« bemerkte Elisabeth, indem sie Berthas Hut aufhob und einige dürre Blätter und Moose von den Klatschrosen abstreifte.
»Das glaube ich nicht,« entgegnete Miß Mertens. »Seit sie stumm ist, hat sie merkwürdigerweise auch ihre Besuche in Lindhof eingestellt … Sie war früher täglich im Schlosse, wohnte den Bibelstunden bei und hatte bei der Baronin einen großen Stein im Brette … Das alles hat plötzlich ein Ende genommen, ohne daß irgend jemand sagen kann, weshalb. Nur dann und wann habe ich sie auf