Hatte Elisabeth das Fernrohr bis dahin rastlos von einem Gegenstande zu dem andern wandern lassen, so suchte sie jetzt einen festen Halt und Stützpunkt für dasselbe; denn sie hatte eine Entdeckung gemacht, die ihr Interesse in hohem Grade fesselte.
Unter dem letzten Baume in der Allee stand ein Ruhebett. Eine junge Dame lag darauf; sie hatte den reizenden Kopf zurückgelehnt, so daß ein Teil ihrer langen kastanienbraunen Locken über das Polster herabfiel. Unter dem Saume des langen weißen Musselinkleides, das die ganze Gestalt bis an den Hals züchtig verhüllte, erschienen zwei zarte Füßchen in goldglänzenden Saffianschuhen. Die Dame hielt zwischen den feinen, fast durchsichtig mageren Fingern einige Aurikeln, welche sie gedankenlos unaufhörlich hin und her drehte. Nur auf den schmalen Lippen lag ein schwacher Anflug von Rot, sonst war das Gesicht lilienweiß, man hätte sich versucht fühlen können, seine Lebenswärme zu bezweifeln, hätten nicht die blauen Augen in einem wundersamen Ausdrucke geleuchtet. Diese Augen mit diesem Ausdrucke aber waren auf das Gesicht eines Mannes gerichtet, der, gegenüber sitzend, ihr vorzulesen schien. Elisabeth konnte sein Gesicht nicht sehen, denn er wendete ihr den Rücken zu. Er schien jung, groß und schlank zu sein und hatte üppiges dunkelblondes Haar.
»Ist die reizende Dame da drunten die Baronin Lessen?« fragte Elisabeth gespannt.
Der Oberförster nahm das Perspektiv. »Nein,« sagte er, »das ist Fräulein von Walde, die Schwester des Besitzers von Lindhof. Du nennst sie reizend, und ihr Kopf ist es auch, aber ihr Körper ist krüppelhaft – sie geht an der Krücke.«
In diesem Augenblicke trat Frau Ferber hinzu. Auch sie sah durch das Glas und fand das Gesicht der jungen Dame überaus lieblich; sie hob besonders den Ausdruck von Seelengüte hervor, der »die Züge verkläre«.
»Ja,« sagte der Oberförster, »gut und mildthätig soll sie auch sein. Als sie hierher kam, war die ganze Umgegend ihres Lobes voll … Aber auch darin hat sich das Blättchen sehr gewendet, seit die Baronin Lessen das Regiment im Hause führt … Da kommt kein Almosen mehr unter die Armen, das nicht erst mit dem Muckertum auf der Goldwage gelegen hätte … Wehe dem armen Bittsteller, er kriegt keinen Pfennig Unterstützung, und noch spitze Bemerkungen obendrein, wenn es sich nämlich herausstellt, daß er lieber beim Pfarrer in Lindhof die Predigt hört, als in der Schloßkapelle, wo ein Kandidat – der Hauslehrer der Baronin – allsonntäglich Feuer und Schwefel und alle erdenklichen Höllenqualen von der Kanzel herab auf die Häupter der Gottlosen schleudert.«
»Solche Zwangsmaßregeln sind ein sehr übles Mittel, den christlichen Sinn im Volke wieder zu erwecken,« meinte Frau Ferber.
»Sie schlagen ihn vollends tot und füttern dafür die Heuchelei groß, sage ich!« rief zornig der Oberförster. »Schon deshalb, weil sie selbst das Beispiel dazu geben. Da lesen sie jederzeit in der Bibel von der christlichen Demut und werden doch von Tag zu Tag hochmütiger und anmaßender; ja, sie wollen einem sogar weismachen, ihr hochgeborener Leib sei schon aus einem ganz andern Stoffe, als der ihrer niederen Brüder in Christo … Wenn du aber Almosen gibst, so lasse deine linke Hand nicht wissen, was deine rechte thut, so steht geschrieben … ein Huhn macht aber wahrlich nicht mehr Geschrei um sein eben gelegtes Ei, als diese Leute um ihre milden Thaten. Da gibt’s Kollekten, Armenlotterien u. dergl. m., wobei die ganze Umgegend unaufhörlich gebrandschatzt wird; wenn es aber gilt, da zu nehmen, wo am meisten zu finden ist, im eigenen Geldbeutel, da hört der Spaß auf, wie man zu sagen pflegt … Ich kenne Leute, die seit zwanzig Jahren milde Gaben anderer sorgfältig zusammensparen, um dereinst ein Armenhaus zu gründen. Diese vortrefflichen Leute beziehen ein jährliches Einkommen von ungefähr sechstausend Thalern. Zu verlangen, daß sie von diesem Lumpengelde hier und da ein Sümmchen abbrechen sollen zum Besten ihres löblichen Vorhabens, das darf einem beileibe nicht einfallen … sie haben den Heiligenschein christlicher Aufopferung und Hingebung so billiger … Herr Gott, wie mich das ärgert, wenn die Leute ihre Frömmigkeit so auf dem Präsentierteller herumtragen! … Da drunten in dem Hause, da bimmelt das Glöckchen so und so vielmal des Tages; dann heißt es in der Umgegend – denn man hört’s weit und breit – ›jetzt beten die im Schlosse‹. Das Kämmerlein, in welchem sie nach Gottes Gebot zu ihm reden sollen, ist ihnen zu klein und nicht nach ihrem Geschmacke … Aber mir ist nicht allein das Gesperr ein Greuel; nein, es ist auch geradezu gottheillos, so mir nichts dir nichts das Heiligste in die Berufsgeschäfte hineinzuziehen … Jetzt frage ich, ob die Jungfer, die eben ein glühendes Plätteisen handhabt, oder der Koch, der einen heiklen Braten in der Röhre hat, sich freuen kann, wenn das Glöckchen mit einemmale anfängt?«
»Ja, in diese Art Andacht setze ich allerdings einige Zweifel,« sagte lächelnd Frau Ferber.
»Oder ob der Gnädigen selbst – die vielleicht gerade einen interessanten Roman liest, oder eine neue Hofintrige im Kopfe hat – denn diese Geschichten lassen sich auch neben der Frömmigkeit ganz vortrefflich abwickeln – ein solcher Harrassprung vom Weltlichen in die Gottesverehrung wohl möglich ist? … Ja, ja, da laufen diese Leute ungesäubert und ungewaschen im Reiche Gottes aus und ein und denken auch noch wunder, wie sehr sich unser Herrgott freuen muß, daß sie ihm diese Ehre schenken.«
»Und ist Herr von Walde mit den Reformen der Baronin Lessen einverstanden?« fragte Frau Ferber.
»Nach allem, was ich in der Beziehung von ihm höre, wahrscheinlicherweise nicht; aber was hilft das? … Der durchstöbert vielleicht im Augenblicke die Pyramiden, um Licht in die alten Zeiten zu bringen; daß seine Frau Kousine unterdes im christlichen Eifer das anrüchige Licht der Gegenwart nach Kräften mit auszublasen sucht, das kann er ja nicht wissen … Er mag übrigens auch seinen ganz gehörigen Sparren haben … Der Fürst von L., dem er sehr nahe steht, soll in früheren Jahren lebhaft eine Verbindung zwischen ihm und einer jungen Dame am Hofe gewünscht haben; er hat, dem Vernehmen nach, die Partie ausgeschlagen, weil das Fräulein nicht die erforderliche Anzahl Ahnen besitze.«
»Nun, da kann es sich wohl ereignen, daß er einstmals eine schöne Fellahtochter, die ihre Ahnen noch unter den Mumien von Memphis suchen darf, als Herrin in das reizende Lindhof einführt?« meinte lachend Elisabeth.
»Ich glaube überhaupt nicht, daß er sich noch verheiratet,« entgegnete der Oberförster. »Er ist nicht mehr ganz jung, hängt viel zu sehr am Wanderleben und soll sich auch im ganzen nie was aus Weibsleuten gemacht haben …. Ich will gleich meinen kleinen Finger verwetten, daß der da drunten mit dem Buche in der Hand diese meine Ansicht teilt und Lindhof und alle die anderen schönen Besitzungen in Sachsen und Gott weiß wo noch im innersten Schrein seiner Seele als unverlierbares Eigentum betrachtet.«
»Hat er Ansprüche daran?« fragte Frau Ferber.
»Freilich wohl. Er ist der Sohn der Baronin Lessen. Außer dieser Familie haben die Geschwister von Walde keine Verwandten in der ganzen weiten Welt. Die Baronin war zuerst mit einem Herrn von Hollfeld verheiratet; aus dieser Ehe stammt der junge Mann da drunten, der durch den frühen Tod seines Vaters Herr von Odenberg, einer großen Besitzung jenseits L., geworden ist. Die schöne Witwe hat damals gemeint, sie müsse eiligst ihre Freiheit benützen, um wenigstens noch eine Staffel auf der Leiter menschlicher Glückseligkeit und Vollkommenheit zu ersteigen; diese Staffel aber konnte natürlicherweise nur der Freiherrnrang sein, und deshalb wurde Frau von Hollfeld eines schönen Tages die Gemahlin des Baron Lessen. Sein Name war zwar etwas anrüchig, es klebten einige Thatsachen daran, die man in niedrigerer Sphäre spießbürgerlicherweise unehrenhaft nennt, aber das schadete nichts, er war ja auch Kammerherr, der Schlüssel am Rockknopfe schließt das Hofparadies auf, und davor müssen sich selbst die gewaltigen Schlüssel des heiligen Petrus verstecken, trotz aller Verheißungen, die sie einst wahrmachen sollen. Der Baron machte übrigens nach zehnjähriger Ehe seine Gemahlin abermals zur Witwe und hinterließ ihr, außer einer kleinen Tochter, eine enorme Schuldenlast … Es mag ihr nun freilich gefallen, in Lindhof unumschränkt die Herrin spielen zu dürfen, denn wie ich höre, hat sie auf dem Gute ihres Sohnes weder Sitz noch Stimme.«
Eine Magd aus dem Forsthause unterbrach hier das Gespräch, indem sie, mit Scheuereimer und Kehrbesen bewaffnet, durch unzweideutige Bewegungen zu erkennen gab, daß jetzt ihr