Sie verließ nur einmal des Tages ihre Räume, um sich in dem Teil der Platanenallee zu ergehen, der den großen Garten durchschnitt; im Vorgarten war sie noch nie gesehen worden, so wenig wie sie sich dem Atelier näherte. Manchmal sah es aus, als zöge es den rasch wandelnden Fuß gewaltsam dort hinüber, wo hinter breiter Glaswand das leuchtende Grün wohlbekannter Blattformen, von springenden Wasserstrahlen wie von Silberpfeilen durchzuckt, herüberwinkte; aber es war, als zähle sie die Platanenstämme, so pünktlich kehrte sie stets an derselben Stelle um. Und der Herr des Schillingshofes achtete streng die unsichtbare Schranke, hinter der sich die Tochter der Tropen voll Widerwillen von der Berührung mit dem Deutschtum fernhielt. Er vermied die Begegnung; für ihn schien ja mit dem Einzug der Kinder in sein stilles, ödes Haus das Morgenrot eines neuen Lebens aufgegangen zu sein – die Staffelei stand verwaist und die Farben auf der Palette trockneten. – »Das müßte die Gnädige sehen!« zischelten die Leute des Hauses untereinander, wenn sie ihn, die kleine Paula auf dem Arm, durch den Garten gehen sahen. Das Kind grub die Händchen in seinen schönen, krausen Kinnbart und schmiegte zutraulich das blonde Gelock an sein braunes Antlitz; und er hob sie hoch im Gebüsch und ließ sie in die Vogelnester sehen, oder er ließ mit José um die Wette flache Kiesel über den Teichspiegel springen, und in den Kinderjubel hinein klang sein frisches, heiteres Lachen. »Wie man nur so lachen kann, wenn man eine solche Nachteule zur Frau hat!« murmelte dann Lucile ganz erbittert, wenn sie in der Allee an ihrer Schwägerin vorüberhuschte ...
Die Nachmittagssonne brannte heiß; aber unter den Platanen war es so schattig, daß Donna Mercedes den kleinen Sonnenschirm zusammenfaltete und ihn auf den nächsten Gartentisch warf. Sie war heute der Tageshitze wegen in ihrem Morgenkleid von dünnem, indischem Musselin verblieben. In diesem weichen, schleierartig um die Glieder schwebenden Gewebe, das durch sein Mattweiß dem blaßgelben Teint einen entschiedenen Bronzeglanz und dem über den Nacken fallenden, in einem Netz gebändigten Haar die Schwärze der Rabenfeder lieh, mochte die finsterblickende Frau recht wohl als der Typus jener in weichlichem Luxus grenzenlos verwöhnten »Plantagenfürstinnen« gelten, von denen man behauptet, daß die elfenhaft schwebenden Füßchen ohne Bedenken über hingestreckte Sklavenleiber, wie über den Teppich zu schreiten verstünden, während in den schmächtigen Händen eine fast männliche Kraft schlummere, die urplötzlich zur energischen Züchtigung Mißliebiger hervorbreche.
Sie ließ heute den Blick freier über den Garten hingleiten – kein zudringliches Auge war zu scheuen, von der Dienerschaft ließ sich niemand sehen, und der Herr des Schillingshofes war vor einer Weile durch den Vorgarten nach der Stadt gegangen.
Vor der dunklen Fichtengruppe, an deren Zweigen hellgrüne Triebe wie Fransen schaukelten, blendete die weiße Wand des Ateliers, und aus den Scheiben des anstoßenden Glashauses sprühte das zurückgeworfene heiße Sonnengold. An den unverkünstelten Rosenhecken brachen zu Tausenden die vollen, schweren Zentifolienblüten auf; die Sterne der Gänseblümchen, gelbe Butterblumen und dickköpfige, rote Kleeblüten wogten mit dem fetten, hochaufgeschossenen Wiesengras als buntfarbige Wellen unter dem leichten Sommerwind; Feldthymian und Lavendel dufteten, und die kleine, rasch dahinschießende Wasserader, die den Teich speiste, säumte ein blauer Vergißmeinnichtstreifen. Und weit drüben – der fernblickende Teichspiegel lag dazwischen – erhob es sich undurchdringlich grün wie wildes Dickicht, das war der Zaun des Klostergartens. Stattliche Obstbaumwipfel, aber kein einziger Zierbaum, stiegen hinter ihm auf; dort roch es kräftig nach Bohnenkraut, Dill und Krauseminze, und ganze Scharen weißer Schmetterlinge kamen über die grüne, struppige Wand, um sich an den Sommerblumen der Beete zu letzen.
Dieses entsetzliche Klostergut! Man sah die windschiefen, bemoosten Ziegeldächer der Hintergebäude; aus den offenen Luken guckten Stroh- und Heubüschel, und da, wo nicht das Blätternetz am Weinspalier mitleidig die Wand bedeckte, war der Kalkbewurf abgefallen und ließ die nackten Bruchsteine sehen. Man hörte, wenn auch schwach, aber doch in widerwärtiger, nervenangreifender Wiederholung das Krähen der Haushähne herüber, Taubenschwärme flogen geräuschvoll ab und zu, zankten und bissen sich auf den Firsten, und auch Dohlengesindel, seit unvordenklichen Zeiten unter schwer zugänglichen Giebelvorsprüngen nistend, verfinsterte für Augenblicke die Luft durch den ausfliegenden Heereskörper seiner schwarzen Gestalten ... Das alles war urdeutsch, auch der einfache, ungekünstelte Hausgarten des Schillingshofes, und der Wind, der den Duft blühenden Kornes und quellenden Tannenharzes im Atem, warm, und doch mit scharfwürziger Herbe an dem Gesicht der wandelnden Fremden hinstrich und ein böses, zornmütiges Lächeln um ihre Lippen weckte.
Der kleine José lief ihr ab und zu über den Weg. Er hatte vom Stallknecht ein weißes Kaninchen geschenkt bekommen, das er, stumm vor Entzücken, auf Tritt und Schritt verfolgte. Nun stürzte es sich kopfüber in das Wiesengras; es verschwand spurlos in dem Halmengewoge, wie die strammen Beinchen des angstvoll nachlaufenden Knaben versanken. Pirat hatte bis dahin regungslos, in bewunderungswürdiger Zurückhaltung auf der Schwelle des Glashauses gelegen und behaglich die heiße Sonne auf sein verwöhntes Fell brennen lassen; in dem Augenblick aber, wo José zu laufen begann, kam er in gewaltigen Sätzen herbeigestürzt und schreckte das kleine Tier auf – in weitem Bogen sprang es über den Kies vor dem Glashause und rettete sich dort in die halboffene Türe vor seinen Verfolgern. Sie rannten wie toll hinterdrein, und gleich darauf erscholl ein Poltern und Aufschreien – José schrie mit seiner Mama um die Wette.
Donna Mercedes schritt rasch hinüber.
Das Kaninchen war hinter die Pflanzenkübel geschlüpft, und Pirat hatte seinen gewaltigen Körper nachgezwängt; dadurch war ein Drachenbaum umgefallen, und der hatte mit seinen harten Schwertblättern das Bassinwasser eines Springbrunnens hochaufgepeitscht. Ein Schwall hatte sich über den Fußboden ergossen, und auf den breiten Blattflächen, dem verschränkten Gezweig ringsum rollten und zitterten die Tropfen, als sei ein starker Regenschauer niedergefallen.
Lucile war in die Nähe der Türe, auf eine trocken gebliebene Stelle geflüchtet; sie schleuderte die Wasserperlen von den Kleidern und aus den Locken und trocknete das überströmte Gesicht vorsichtig tupfend mit dem Taschentuche. Sie schalt heftig auf José ein, brach aber gleich darauf in ein helles Gelächter aus, als der Hund, sein durchnäßtes Fell bärenhaft schüttelnd, auch noch ein paar blühende Topfpflanzen umstieß und dann wie besessen sein Heil in der Flucht suchte.
Donna Mercedes war auf der Schwelle stehen geblieben. »Was tust du hier, Lucile?« fragte sie unwillig erstaunt.
»Mein Gott, ich amüsiere mich – Hast du etwas dagegen?« versetzte die kleine Frau spitz, wobei sie sich bückte, um ein Album aufzunehmen, das im Bereich der Überschwemmung auf dem Boden lag. »Die alten Mönche müssen Mohnsamen in den Grundstein des Schillingshofes gelegt haben, so fürchterlich gähnt die Langweile drüben aus allen Ecken ... Ich habe aber keine Lust, wie ein schläfriges Käuzchen in diesen Winkeln stillzusitzen und vor der Zeit fett zu werden – bah, ich mit meinem Quecksilberblut – fällt mir gar nicht ein! Ich breche durch, wo ich kann!«
Sie