Sie lief um den mit feinstem Porzellan eingedeckten Tisch herum, umarmte ihre Tante und erkundigte sich fröhlich: »Habe ich etwas ausgefressen, mein Röschen? Oder was liegt sonst an?«
Leonie war sich nicht sicher, ob der nach einer solchen Bemerkung stets einsetzende Protest echt war, oder ob Tante Klare es insgeheim nicht sogar genoss, von ihr Röschen genannt zu werden, in Anlehnung an das von Rosenstein.
Nachdem sie darum gebeten hatte, nicht mehr Röschen genannt zu werden, bat Klara sie, sich zu setzen, und dann kam sie auch sofort auf den Kern der Sache zu sprechen.
»Meine Freundin Regina hat uns eingeladen.«
Oh nein!
»Liebe Tante Klara, sie hat dich eingeladen, und du hast sie gebeten, die Einladung auch für mich auszusprechen … Nach Ahndorf reisen wir doch immer nur im Doppelpack. Tut mir leid. Diesmal kann ich nicht mitkommen. Ich habe an meinem Roman zu arbeiten.«
Klara wartete, bis Dora den Tee und die kleinen köstlichen Kuchen serviert und den Raum wieder verlassen hatte, ehe sie sich noch ein wenig mehr aufrichtete, wenn das überhaupt möglich war.
»Rede keinen Unsinn, mein Kind. Du hast seit Wochen eine Schreibblockade und keinen einzigen vernünftigen Satz zu Papier gebracht.«
Leonie fühlte sich ertappt.
»Ach, und woher willst du das wissen?«
Klara stellte auf unnachahmliche, elegante Weise ihre Teetasse ab.
»Ganz einfach, weil ich von dir nichts mehr zu lesen bekomme. Hast du vergessen, dass ich sonst immer die Erste bin, die das Geschriebene zu Gesicht bekommt?«
Das stimmte.
Klara Gräfin von Rosenstein konnte man eben nichts vormachen.
»Manchmal braucht man auch eine Pause«, versuchte Leonie sich zu rechtfertigen. »Schließlich bin ich kein Schreibautomat, der einen Roman nach dem anderen produziert, wie auf dem Fließband. Das Schreiben ist ein kreativer Prozess. Da braucht man zwischendurch auch mal eine schöpferische Pause.«
Klara von Rosenstein antwortete nicht sofort.
Sie aß genüsslich etwas von dem Kuchen, den nur ihre Haushälterin Dora, die gleichzeitig auch die Köchin war, in dieser Vollkommenheit backen konnte.
Klara tupfte sich den Mund ab, ehe sie sagte: »Du musst mir nichts vormachen, mein Kind. Du musst dich auch nicht rechtfertigen. Um nicht aufzufallen, darfst du allerdings auch nicht die übervollen Papierkörbe stehen lassen, die ein Zeichen für all deine gescheiterten Versuche sind, etwas zu Papier zu bringen. Ich hoffe bloß, an dieser Schreibblockade ist nicht dieser grässliche Mensch schuld …, Kevin! Wer heißt schon Kevin, und dann auch noch Schulz … Ich danke Gott jeden Tag auf Knien, dass der aus deinem Leben verschwunden ist. Ich kann noch immer nicht verstehen, was du an dem gefunden hast. Leonie, sei froh, dass du ihn los bist. So jemand wie der passt nicht zu dir. Du bist eine von Tenhagen, geborene von Rosenstein. Unser Stammbaum lässt sich lupenrein zurückverfolgen. Wir sind mit regierenden Fürstenhäusern verwandt, unsere Abstammung lässt sich bis in die kaiserliche Linie verfolgen, Könige haben …«
Leonie konnte es nicht mehr hören. So sehr sie ihre Tante auch liebte, wenn sie anfing auf diese Weise zu monologisieren, würde sie ihr am liebsten den Mund zuhalten.
»Tante Klara, bitte lass es. Komm endlich in der Gegenwart an. Kaiserliche oder königliche Abstammung interessiert niemanden mehr, und ob nun Fürsten, Grafen, Herzöge oder Barone …, die leben ganz normal oder in einem Kosmos, der nichts mit der Realität zu tun hat.«
Klara von Rosenstein legte ihre Kuchengabel weg.
»In unseren Kreisen …«, sie betonte jedes Wort nachdrücklich, »hält man die Werte noch hoch, trägt man die Verantwortung für einen großen Namen … Bei uns hat ein Kevin Schulz nichts zu suchen. Er hat sich doch gezeigt als das, was er ist … Mit jemandem von uns wärst du nicht so hereingefallen. Nach diesem großartigen Robert wäre er ein …, ein …, sozialer Abstieg gewesen. Es gibt genug großartige Männer unserer Kreise, die sich um dich reißen würden.«
Leonie musste an sich halten, um jetzt nicht zu explodieren. Wenn Klara so drauf war, setzte irgendwo ihr Verstand aus. Da war sie verbohrt, überheblich …, ganz einfach dumm.
Sie ließ sich mit ihrer Antwort Zeit.
»Liebe Tante Klara, ich bin keine Ware kurz vor dem Verfallsdatum. Und ich betone nochmals, dass Kevin nichts mit meiner, wie du sagst, Schreibblockade zu tun hat … Wenn es dich beruhigt, ich habe ihn nicht geliebt, glaubte, in ihn verliebt zu sein, weil er charmant war, mich zum Lachen bringen konnte. Ich hätte irgendwann eh mit ihm Schluss gemacht, weil wir nicht wirklich zusammen passten.«
»Weil jemand, der Kevin Schulz heißt und es wagt, sich an eine von Tenhagen heranzumachen, eine Zumutung für unsere Kreise ist.«
Jetzt wurde Leonie so wütend, dass sie keine Rücksicht mehr auf ihre Tante nehmen konnte.
»Tante Klara, überall, auch in unseren sogenannten Kreisen, gibt es schwarze Schafe.«
»Das wüsste ich aber. Nenn mir mal jemanden.«
Leonie war froh, sofort eine Antwort darauf geben zu können, weil es gerade in aller Ausführlichkeit durch die Presse gegangen war.
»Oh, die Bismarcks. Bei denen ist einiges im Argen, und wenn du nur einen von ihnen beim Namen nennen willst …, den guten Carl-Eduard, genannt Kalle … Der ist mehr als nur das schwarze Schaf der Familie, der ist eine Schande für sie …, mehrere Ehen, alkoholsüchtig …, zahlt keinen Unterhalt für seine Kinder. Der Gerichtsvollzieher geht bei ihm wegen unbezahlter Rechnungen ein und aus. »
Klara hielt sich die Ohren zu.
»Hör auf.«
Na klar, so etwas wollte sie nicht hören.
»Tante Klara, ich höre gleich auf. Noch eines …, der gute alte Fürst Otto muss das wohl vorausgeahnt haben, denn von ihm stammen die ach so wahren Worte: ›Die erste Generation verdient das Geld, die zweite verwaltet das Vermögen, die dritte studiert Kunstgeschichte, die vierte verkommt vollends …‹ Willkommen in der Gegenwart.«
Leonie biss sich auf die Zunge.
Alles, was sie von sich gegeben hatte, war so unnötig wie ein Kropf. Sie war, wenn sie ehrlich war, nicht wütend auf ihre Tante, sondern einzig und allein auf sich selbst.
Sie war wütend, weil sie wirklich eine Schreibblockade hatte. Und je krampfhafter sie sich bemühte, etwas zu Papier zu bringen, umso weniger gefiel es ihr. Ihre Akteure waren nicht lebendig, die ganze Geschichte nicht im Fluss.
Vielleicht war eine Auszeit, war ein Tapetenwechsel genau das Richtige, zumal sie eigentlich sehr gern auf Schloss Ahndorf war, ganz besonders wegen Florian, dem Sohn und Erben.
Es verband sie eine wunderbare Freundschaft mit ihm. Florian war so etwas wie ein älterer Bruder für sie. Das lag vermutlich daran, dass sie sich seit ihrer Kindheit so gut verstanden, miteinander vertraut waren.
»Tut mir leid, Tante Klara«, sagte sie versöhnlich. »Das hätte ich jetzt nicht sagen dürfen, deine Bemerkung über Kevin war aber auch nicht gerade ladylike …, vertragen wir uns wieder? Und ja. Ich glaube es ist eine gute Idee, nach Ahndorf zu fahren. Wann soll es losgehen?«
Zum Glück war Klara von Rosenstein auch nicht nachtragend. »Morgen«, sagte sie.
Das passte Leonie nun überhaupt nicht, aber sie wagte nicht, ihrer Tante zu widersprechen, weil die Wogen noch nicht ganz geglättet waren. Das erkannte man an Klaras Gesicht. Sie machte, auch wenn sie sich zusammenriss, noch einen leicht beleidigten Eindruck.
»Wunderbar«, bemerkte Leonie. »Darf ich dir noch etwas Tee einschenken?«
Für Leonie war