»Die ist so weit, daß sie gar nicht mehr zu sehen ist«, antwortete Herr Zippel.
»Aber ich muß doch in die Schule! Ich muß aufpassen, wer noch nach dem Läuten spricht, weil ich doch die Erste bin!« schluchzte Nesthäkchen und lehnte sich noch weiter aus dem Fenster.
»Zurück – du fällst!« rief Herr Zappel erregt.
Zu spät – pardauz – da plumpste Nesthäkchen bereits aus dem Luftschiff heraus.
Sie fiel – immer tiefer und tiefer fiel sie. Nirgends ein Vorsprung, nirgends eine Spitze, an der sie sich hätte festhalten können.
»Ich falle!« schrie sie, und da war sie endlich auf der Erde angelangt.
Sie schlug die Augen, die sie angstvoll bei dem jähen Sturz geschlossen hatte, auf – wie merkwürdig, gerade in ihr Bettchen war Klein-Annemarie hineingefallen. Vor demselben aber stand Fräulein und lachte.
»Du hast wohl geträumt, Annemiechen, es ist Zeit zum Aufstehen.«
»Ich bin doch eben noch mit dem Zippel-Zappel-Zeppelin im Mondland gewesen«, meinte die Kleine noch ganz verschlafen. »Hörst du denn das Luftschiff nicht surren, Fräulein?«
»Rrrrrr – rrrrrr«, klang es wirklich vom Fenster her.
Eine große schwarze Brummfliege surrte dort gegen die Fensterscheibe.
10. Kapitel
Im Zoologischen Garten
Tante Käthchen und Onkel Heinrich aus Arnsdorf, dem Gut, auf dem Nesthäkchen und ihre Brüder im vorigen Jahre herrliche Sommerferien verlebt hatten, waren zu Besuch nach Berlin gekommen. Das gab eine Freude, jeder Tag war jetzt ein Festtag.
Tante Käthchen war Muttis Schwester und hatte Nesthäkchen ganz besonders in ihr Herz geschlossen. Nur schade war’s, daß Cousine Elli hatte zu Hause bleiben müssen. Trotzdem Elli sechs Jahre älter war als Klein-Annemarie, waren die Cousinen gut Freund miteinander.
Aber die Spazierfahrten, die vielen Besorgungen, die meistens in einer Konditorei endigten, zu denen Tante Käthchen Nesthäkchen öfters mitnahm, trösteten über Ellis Fernbleiben.
»Wenn Sonntag schönes Wetter ist, gehen wir mit euch drei Banditen nach dem Zoologischen Garten«, verkündete Onkel Heinrich eines Tages den mit leuchtenden Augen lauschenden Braunschen Kindern.
»Au – fein – famos!« Mit dreistimmigem Jubel wurde Onkels Vorschlag aufgenommen.
»Darf meine Gerda auch mit, lieber Onkel Heinrich? Sie ist noch nie in ihrem Leben im Zoologischen Garten gewesen.« Nesthäkchen schmiegte den Blondkopf zärtlich bettelnd an Onkels Bart.
»Aber natürlich – erst recht, die junge Dame ist feierlichst eingeladen«, lachte der nette Onkel.
»Gerda – Gerdachen – du darfst mit in den Zoologischen Garten!« jauchzend schallte es durch die Kinderstube. Puppe Gerda strahlte über das ganze Porzellangesicht, denn es gab jetzt manchmal Tage, wo Annemarie sich gar nicht mehr um sie kümmern konnte. Das kleine Schulmädel hatte zuviel andere Pflichten. Darum freute Gerda sich doppelt auf das bevorstehende Vergnügen.
»Nun sorgt nur dafür, daß Sonntag schönes Wetter ist, Kinder«, mahnte Tante Käthchen scherzend. Das taten sie denn auch alle drei, jedes auf seine Weise.
Hans setzte seinen Laubfrosch, den grünen Wetterpropheten, auf die oberste Sprosse der kleinen Leiter, die aus dem Glas herausführte. Da mußte das Wetter doch gut werden.
Klaus, der zu seinem letzten Geburtstage ein kleines Wetterhäuschen bekommen hatte, sah am Sonnabend abend mit Schrecken, daß der kleine Mann mit dem Regenschirm, der schlechtes Wetter prophezeite, im Begriff war, aus dem Häuschen herauszutreten. Da zogen und zerrten die unnützen Jungenfinger so lange an dem kleinen, sich im Haus verkriechenden Frauchen, welches nur bei schönem Wetter vor dem Häuschen erscheint, bis es ärgerlich heraussprang. Freilich war das Wetterhäuschen entzwei – aber was tat das – wenn es nur morgen nicht regnete!
Nesthäkchen aber faltete abends im Bett seine Händchen und bat den lieben Gott so recht innig, doch morgen bloß die Sonne scheinen zu lassen.
Was nun die Veranlassung war, daß am Sonntag wolkenlos blauer Himmel über Berlin erstrahlte, ob der Laubfrosch von Hans, ob das kaputte Wetterhäuschen von Klaus oder Nesthäkchens Abendgebet, das weiß man nicht genau. Die Hauptsache war, daß aus dem Besuch im Zoologischen Garten etwas wurde.
Die Jungen in hellen Waschanzügen, Annemarie im weißen Stickereikleid mit mattrosa Seidenschärpe, so setzte sich die Karawane in Bewegung. Puppe Gerda, welche genau so aufgeregt war wie Nesthäkchen, trug dasselbe Kleid wie ihre kleine Mama.
»Sehen Gerda und ich nicht wie Zwillinge aus?« fragte Annemarie Tante Käthchen.
»Ja, wir müssen uns vorsehen, daß wir euch nicht verwechseln«, pflichtete diese ihr lächelnd bei.
»Daß ihr mir dort aber keine Dummheiten macht, ihr Krabben«, drohte Onkel Heinrich, der die Streiche der jungen Herren bei ihrem Sommeraufenthalt in Arnsdorf genugsam kennengelernt hatte. »Verstanden, Musjöh?« Er zog Klaus bei den Ohren.
»I bewahre« – die »drei Krabben« sahen so treuherzig drein, als ob sie kein Wässerchen trüben könnten.
Am Eingang zum Zoologischen Garten stand die liebe Großmama. Jubelnd eilte Annemarie auf sie zu. Daß Großmuttchen mitkam, war eine feine Überraschung.
Nun war man endlich drin, erwartungsvoll sahen sich die Kinder in dem großen, parkartigen Garten um.
»Zuerst zum Elefanten – ja, bitte, Onkel«, bestürmte ihn Nesthäkchen.
»Nee – zu den Raubtieren«, kommandierte Klaus.
»Ich möchte lieber das Nilpferd sehen«, ließ sich Hans vernehmen.
»Selber eins!« erklang es brüderlich-zärtlich von den Lippen des jüngeren Frechdachses Klaus.
Ohne Onkel Heinrichs Dazwischentreten hätten Hans und Klaus höchstwahrscheinlich den Besuch im Zoologischen Garten durch eine kleine, kunstgerechte Keilerei eingeweiht.
Einen Schlingel hüben, einen drüben, so ging es zuerst zu den Elefanten.
Nesthäkchen faßte Großmama ängstlich an die Hand und blieb in respektvoller Entfernung von den grauen Ungetümen stehen.
»Du brauchst dich nicht zu fürchten, Gerdachen, Elefanten beißen nicht, höchstens können sie einen mit ihren dicken Beinen tottreten, aber es ist ja ein Gitter vor«, sprach Klein-Annemarie ihrer Puppe, mehr aber noch sich selbst Mut zu.
»Sieh’ nur, die langen Stoßzähne, Herzchen«, machte Tante Käthchen die Kleine aufmerksam.
»Haach, muß der Elefant aber eine große Zahnbürste haben! Der nimmt am Ende ’ne Teppichbürste zum Zähneputzen, was, Tante Käthchen?« überlegte Annemarie.
»Wißt ihr denn auch, was wir aus den Zähnen der Elefanten gewinnen?« mischte sich Onkel Heinrich, der belustigt zugehört hatte, jetzt ins Gespräch.
Der Untertertianer Hans konnte Auskunft geben.
»Das Elfenbein«, sagte er stolz.
»Jawohl, Elfenbein«, lachte Nesthäkchen los. »Die plumpen Beine von dem Elefanten sehen gerade wie Elfenbeine aus!«
»Die Zähne geben das Elfenbein, nicht die Beine«, belehrte sie Onkel Heinrich unter dem Lachen der übrigen.
Weiter ging’s, zum Nashorn.
Dasselbe erfreute sich nicht Annemaries Wohlgefallen. Gräßlich fand die Kleine das täppische Tier mit dem Riesenpickel auf der Nase.
Aber das Känguruh daneben, das war allerliebst.