»Pfui, Gerda, wie kannst du nur so ungeschickt sein, mir meine schöne Arbeit so zu verderben – ach, was wird Tante Fräulein Hering bloß dazu sagen!«
Dann aber sprang die Kleine auf, vielleicht ließ sich noch Abhilfe schaffen. Ihr Fräulein zu rufen, traute sich Annemarie nicht, die würde gewiß böse sein, daß sie sich von Puppe Gerda bei ihren Schularbeiten hatte helfen lassen. Ging Fräulein doch regelmäßig aus dem Zimmer, wenn Nesthäkchen arbeitete, weil die Kleine selbständig ihre Aufgaben anfertigen sollte.
Kurz entschlossen jagte Klein-Annemarie zum Waschtisch. Dort tauchte sie ein Zipfelchen ihres Seiflappens ins Wasser und – heidi – ging es wieder zu dem schwarzen Klecks zurück. Sicher ließ er sich fortwaschen – Fräulein wusch ihr ja die Tinte von den Fingerchen auch stets ab.
Behutsam begann Nesthäkchen den Klecks mit dem nassen Seiflappen zu bearbeiten. Hurra – das düstere Schwarz wurde heller; freilich, der Tintenfleck um so umfangreicher.
»Nee – ohne Bimsstein geht Tinte überhaupt nicht ab!« Wieder jagte Klein-Annemarie zum Waschtisch. Diesmal kehrte sie, mit dem Bimsstein bewaffnet, zum Arbeitspult zurück.
Ribbel – rubbel – ribbel – da war der Tintenklecks weg. Aber ein großes Loch klaffte statt seiner mitten in der Seite.
Schreckensweit wurden Nesthäkchens Augen, und dann begann es aus Leibeskräften zu brüllen. »Hu – u – uh – meine Arbeit hat ein Loch – hu – u – uh!«
Von allen Seiten kamen sie hereingestürzt. Aus der Jungenstube nebenan Hans und Klaus. Erschreckt eilten aus dem Wohnzimmer Mutti und Fräulein herzu. Hanne rannte mit aufgekrempelten Ärmeln vom Aufscheuern fort, und Frieda ließ ihr Plätteisen im Stich. Vater kam sogar aus der Sprechstunde heraus, um zu hören, was seinem kleinen Liebling fehle. Selbst Puck erschien, feindselig blaffend, auf der Schwelle. Alle glaubten, es sei Nesthäkchen ein Unglück zugestoßen, denn es brüllte noch immer wie am Spieß.
»Lotte – Annemie – Herzchen, was ist denn bloß geschehen, tut dir was weh?« Ängstlich forschten Vater und Mutti.
»Hu – u – uh – so ein dolles Loch – hu – u – uh«, klang es in noch schmerzlicherem Geheul statt jeder anderen Antwort.
»Ein Loch – hast du dir ein Loch geschlagen, Kind, wo denn bloß, Lotte?« rief der Arzt besorgt und untersuchte auch schon den Lockenkopf der Kleinen.
»Nee, ach nee – wenn es das bloß wäre – aber meine Arbeit, meine schöne Rechenarbeit hat so ein dolles Loch – hu – u – uh!«
»Na, wenn du nur heil bist, Lotte!« lachte Vater und ging wieder zu seinen Patienten.
»Was, deshalb haste dich so«, meinte auch Bruder Klaus geringschätzig, während Hans ihr den guten Rat gab: »Reiß doch die Seite einfach aus, Annemie!«
Auch Hanne und Frieda hielten das Unglück nicht für so groß, sie gingen wieder mit Seelenruhe an ihre Arbeit.
Nur Mutti und Fräulein faßten die Sache ernster auf.
»Wie hast du denn das bloß zuwege gebracht, du unachtsames Kind!« schalt Mutti.
»Hu – u – uh – ich kann nichts dafür, – Gerda hat ganz allein die Schuld, warum ist sie auch so ungeschickt«, klagte Nesthäkchen das Puppenkind an. Das machte ein ganz zerknirschtes Gesicht. Ach, das Herz schmerzte der Puppe Gerda mehr noch als die große Beule am Kopf vor Gram, daß sie ihrem Mütterchen solchen Kummer bereitet hatte.
»Gerda – wie kommt denn deine Puppe an das Rechenheft?« mischte sich jetzt Fräulein in die Verhandlung. »Hast du etwa gespielt, statt zu arbeiten, Annemie?«
»Nee – i bewahre – im Gegenteil, wir haben alle beide ganz fleißig gearbeitet. Aber dann hat Gerda mit einemmal einen großen Klecks gemacht, und als ich ihn mit Bimsstein ausreiben wollte, ist ein so dolles Loch gekommen – hu – u – uh«, wieder öffneten sich Nesthäkchens Tränenschleusen.
»Siehst du, das kommt davon, Annemie, bei Schulaufgaben haben die Puppen nichts zu suchen«, tadelte Mutti.
»Sie sollte mir ja bloß helfen, weil meine Achten so schlecht wurden«, schluchzte Klein-Annemarie. »Ach, Fräulein, was machen wir denn jetzt bloß?«
»Ja, jetzt kann Fräulein Rat schaffen, hättest du doch vorher gerufen«, sagte die ärgerlich. Aber als sie Annemaries bettelndem Blick begegnete, tat ihr weinender Liebling ihr doch leid. »Na, wollen mal sehen, ob wir die Seite herausnehmen können, dann mußt du die drei Zeilen noch mal schreiben.«
»Nee, ach nee, das tu’ ich ganz bestimmt nicht, ich habe mich schon gerade genug damit gequält! Oder aber Gerda kann die Achten noch mal schreiben, denn die hat den Klecks gemacht.«
»Du bist ja ein ganz dummes Kind.« Fräulein mußte jetzt lachen. »Aber mit dem Ausreißen der Seite ist es nichts, da geht die vorige Arbeit mit heraus. Wir müssen die Seiten zusammenkleben.«
»Brauche ich dann nicht noch mal zu schreiben?« fragte Nesthäkchen erwartungsvoll.
»Freilich, die schon beschriebene Lochseite wird doch verklebt«, zerstörte Fräulein Klein-Annemaries Hoffnungen.
Es half nichts, Nesthäkchen mußte wieder auf ihr Pult klettern und von vorn mit ihren Achten beginnen.
Diesmal ohne Puppe Gerdas Hilfe. Die hockte immer noch voll Schuldbewußtsein unten auf der Erde. Dafür aber blieb Fräulein im Zimmer, und ihre bloße Gegenwart genügte, daß die Zahlen mit dem ihnen zugewiesenen Kämmerchen zufrieden waren und sich gegenseitig nicht in die Wohnung eindrangen. Denn vor Fräulein hatten selbst die Achten Respekt.
Gar nicht lange dauerte es, da hatte die Kleine ihre drei Zellen vollendet, und diesmal sahen die Achten ganz manierlich aus. Ja, Annemarie, wenn man von der Arbeit nicht aufblickt, wenn man sich nicht von dem und diesem ablenken läßt, dann geht es noch einmal so schnell.
Fräulein verklebte die Seite, aber dadurch wurde sie steif und hart wie Holz. Nesthäkchens Herz klopfte jetzt in großer Aufregung. Wenn Fräulein Hering nun etwas merkte.
»Was meinen Sie, Hanne,« fragte sie die Köchin, die ihr das Zuckerei zum Abendbrot schlug, »ob man das sieht, wenn etwas geklebt ist?« Hanne überlegte.
»Na, wenn ich was zertöppert habe und klebe oder leime es hinterher, die gnädige Frau hat’s noch immer gemerkt!« Mit dieser wenig tröstlichen Antwort mußte sich Nesthäkchen zufriedengeben.
5. Kapitel
Verlaufen
Es war am anderen Tage in der großen Pause vor der Rechenstunde. Annemarie hatte ihrer Freundin Margot vorher ihr Heft gezeigt, um die Wirkung der verklebten Seite zu sehen. Dieselbe war geradezu niederschmetternd.
»Au weih,« rief Margot, »du hast ja gekleistert – au weih, wenn das Fräulein Hering sieht!«
Nun schlug Annemaries Herzchen in noch bangerer Furcht der Rechenstunde entgegen.
Als die Schulglocke »klinglinglingling« zur Stunde rief, überlegte Nesthäkchen allen Ernstes, ob sie nicht lieber unten auf dem Hof bleiben sollte. Aber was half das? Fräulein Hering würde sie doch heraufrufen. Auch mit dem Sichverstecken, wie das Bruder Klaus zu machen pflegte, wenn er etwas ausgefressen hatte, haperte es. In den Schulschrank ging sie nicht hinein, und unter der Bank würde die Lehrerin sie bald entdeckt haben.
Unter solchem Sinnen und Überlegen war Klein-Annemarie die Treppen hinaufgestiegen und wie stets in die erste Klassentür eingetreten. Sie hob den Blick nicht von der Erde, das böse Gewissen ließ sie nicht aufschauen.
Schuldbewußt setzte sie sich auf ihren Platz.
»Gott, wie niedlich – nein, wie süß – ist das ein allerliebstes