»Seht ihr, auf dem ersten Bild hängt die kleine Ida ihre Puppenwäsche zum Trocknen auf«, erklärte Fräulein den Kleinen. »Und nun wollen wir den Buchstaben i lernen. Also paßt mal auf, ich schreibe ihn an die Tafel. Fein herauf, stark herunter –«
»Das ist ja eine Eins«, jubelte Annemarie, die bereits bei Bruder Hans es bis zu dieser Wissenschaft gebracht hatte.
»Nein, das wird ein i,« lächelte die Lehrerin, »also noch einmal, fein herauf, stark herunter –«
»Tante Fräulein Hering, das ist aber bestimmt eine Eins; mein Bruder Hänschen hat es mir gesagt, und der muß das wissen, denn der ist schon in der Untertertia und kann auch schon Latein«, rief Annemarie wieder dazwischen.
»Es kommt ja noch ein Aufstrich und ein Pünktchen dazu; siehst du, nun ist es doch keine Eins mehr, Annemie.« Fräulein Hering blieb immer gleich freundlich und geduldig.
Jetzt hatte auch Klein-Annemarie nichts mehr gegen das i einzuwenden.
»Nun tritt mal hier vor, Annemie, da du ja so schön Bescheid zu wissen scheinst, und male das i nach an die Tafel«, winkte die Lehrerin.
»Einen Augenblick, Tante Fräulein Hering, jetzt kann ich nicht!« Eifrig kramte das kleine Mädchen in ihren Sachen.
»Was hast du denn so Wichtiges zu tun, Annemie?« Die Lehrerin amüsierte sich heimlich über das allerliebste kleine Ding, das noch so gar keine Ahnung von dem Ernst der Schule hatte.
»Jetzt muß ich erst mal meine Stulle essen.« Damit bissen Annemaries kleine, weiße Mausezähnchen unternehmungslustig in das Frühstücksbrot.
»Aber Annemie, zum Frühstücken ist doch die Pause gewesen; warum hast du denn da nicht gegessen?« fragte die Lehrerin vorwurfsvoll.
»Na, da hatte ich doch keine Zeit.« Annemaries rundes Gesichtchen sah genau so vorwurfsvoll drein wie das von dem Fräulein.
»Ja, was hattest du denn da in aller Welt zu tun?« Fräulein Hering schüttelte den Kopf.
»Da mußte ich doch spielen.« Jetzt schüttelte Klein-Annemarie das Köpfchen über ihre Lehrerin, die das doch eigentlich wissen mußte.
»Siehst du, Annemie, die anderen Kinder haben alle in der Pause ihr Frühstück verzehrt und dann erst gespielt. Morgen wirst du daran denken, nicht wahr?«
»Ach, es schmeckt mir jetzt auch ganz gut«, beruhigte die Kleine Fräulein Hering.
Diese mußte wieder lächeln.
»Aber es ist nicht erlaubt, Annemie, während der Stunde zu essen; tu dein Brot jetzt fort.«
»Nee.« Klein-Annemarie legte das Blondköpfchen auf die Seite und blinzelte Fräulein Hering pfiffig zu, als ob sie sagen wollte: »Ich weiß ja ganz genau, daß du bloß Spaß machst.« Dann aber, als sie sah, daß Margot sie mit großen Augen anstaunte, hielt sie ihrer neuen kleinen Freundin ihr Brot freigebig hin: »Willst du mal abbeißen, Margot, es schmeckt fein; Hanne hat Braten raufgelegt.«
Margot schüttelte verlegen das Köpfchen. Fräulein Hering aber wußte nicht, ob sie lachen sollte oder ärgerlich sein.
Sie trat zu der kleinen Hungrigen, half ihr das Brot wieder in das Papier packen und sagte: »Wenn du mich lieb hast, Annemie, dann ißt du nie wieder in der Stunde, wirst du dir das merken?«
»Ja, natürlich,« Annemarie nickte einverstanden, »bloß wenn ich mal ganz schrecklich großen Hunger habe!« Dann sprang sie endlich zur Wandtafel und malte dort ein i nach, das sah aus wie der Siebenmeilenstiefel des Menschenfressers, und das Pünktchen sprang, statt darüber, irgendwo daneben als kleiner Däumeling. Dazu gab sie sich bei Fräuleins Kommando »stark herunter« so große Mühe, daß die Kreide von der Anstrengung mittendurch brach.
Nachdem noch einige andere Kinder die Tafel mit fürchterlichen Schlangenlinien, niedlichen spitzen Zuckerhütchen und hohen Bergen, die sämtlich ein i vorstellen sollten, beschmiert hatten, gebot Fräulein: »Schreibhefte und Federhalter herausnehmen!«
Wie strahlten da die blauen, grauen und braunen Kinderaugen, als der schöne, neue Federhalter mit der blanken Stahlfeder, der zu Haus immer nur von weitem bewundert worden war, zum erstenmal von den kleinen Händchen selbst geführt werden durfte. Als die niedlichen Tintenwischer alle neben den Tintenfässern aufmarschierten und die bunten Löschblätter im Schreibheft so lustig leuchteten.
»Vorsichtig, nur ein ganz klein wenig die Feder in die Tinte tauchen«, mahnte die Lehrerin, »und dann schreibt ihr zwischen den ersten beiden Linien ein schönes i.«
Hei – badeten da die Federn in dem schwarzen Tintensee, und die Fingerchen natürlich trotz aller Vorsicht mit.
»Fein herauf, stark herunter, fein herauf – Pünktchen!« kommandierte Fräulein Hering dazu.
Annemarie hatte in ihrem Eifer überhört, daß der Buchstabe nur in den ersten beiden Linien stehen sollte; sie malte ihr i in Riesengröße über die ganze Heftseite. Und da ihr das »stark herunter« nicht kraftvoll genug gelungen war, nahm sie kurz entschlossen den Federhalter verkehrt, tauchte ihn tief in die Tinte und schmierte nun mit dem Holzstiel lustig drauf los, denn tuschen tat sie für ihr Leben gern.
»Au, fein ist es geworden!« Mit heißen Bäckchen und einem stattlichen Tintenschnurrbart, denn Klein-Annemarie war in ihrer Aufregung mit dem tintigen Federhalter unter dem Näschen herumgefahren, hielt sie inne. »Zeig mal deines, Margot; och, ist das klein und mieserig!« Wer da Margots Gesichtchen betrübt über das abfällige Urteil dreinblickte, schlang Annemarie zärtlich ihre Tintenfinger um die Freundin.
»Sei nicht traurig, Margot,« rief sie dabei, ohne sich um Fräulein Hering zu kümmern, »du bist doch meine beste Freundin, wenn du auch solch häßliches i gemalt hast!«
»In der Stunde darf man nur sprechen, wenn man gefragt wird, Annemie.« Fräulein Hering, welche die verschiedenen Kunstwerke begutachtete, wandte sich jetzt zu den beiden. »Sieh mal an, mir gefällt Margots kleines i besser als dein Riesending, Annemie. – Aber wie siehst du denn bloß aus, Kind!« unterbrach sie sich entsetzt. »Gesicht und Hände alles voll Tinte, und deine kleine Freundin hast du ja auch ganz eingeschmiert. Das schöne, rote Musselinkleidchen von Margot zeigt den Abdruck von all deinen Tintenfingern, Annemie. Ihr schaut aus wie die Tintenbuben aus dem großen Tintenfaß des Nikolas.«
Annemarie lachte hell auf. Margot aber fing an zu weinen. Da schlang Annemarie bestürzt aufs neue den Arm um sie, dabei bekam Margots weißes Schürzchen auch noch ein paar schwarze Flecke ab; dann küßte Klein-Annemarie zärtlich die weinende Freundin mit ihrem Tintenschnurrbart auf die Wange.
In der darauffolgenden Pause versuchte Fräulein Hering vergebens, die beiden Tintenmädel zu säubern, aber die Tinte war echt und ging nicht ab.
»Ihr müßt zu Hause Zitrone und Bimsstein nehmen«, tröstete die Lehrerin.
Dann war Rechenstunde.
Annemarie lernte darin allerlei. Erstens, daß man sich nur mit dem Zeigefinger meldet und nicht mit allen zehn Fingerchen. Zweitens, daß man dabei nicht auf die Bank klettert. Und drittens, daß man auch seine beste Freundin während der Stunde nicht küssen darf.
»Ach Gott,« dachte Klein-Annemarie beklommen, »wie soll ich das bloß alles behalten! Na, Fräulein sagt ja, man muß zehn Jahre in die Schule gehen, bis dahin werde ich es am Ende doch gelernt haben.«
»Wieviel Geschwister hast du, Annemie?« unterbrach da Fräulein Hering Annemaries nachdenkliche Betrachtungen, denn es war ihr nicht entgangen, daß die Kleine mit ihren Gedanken wo anders war.
»Gar keine Geschwester, bloß zwei Brüder, Hänschen und Kläuschen«, war die Antwort.
»Nun passe mal auf, Annemie. Denk’ mal, deine Mama gibt einem deiner Brüder drei Äpfel und sagt, er soll jedem von euch beiden einen abgeben, wieviel behält er da übrig?«
»Wenn sie die Äpfel Klaus gibt, alle drei, der ißt sie bestimmt allein auf und gibt uns nichts ab!« rief Doktors