Niehaus antwortete, seine Frau zeigte keinerlei Reaktion. »Nein, bitte lassen Sie es uns gleich hinter uns bringen. Damit wir wenigstens absolute Gewissheit haben, dass es sich nicht um eine Verwechslung handelt. Wir können es immer noch nicht glauben, dass Tanja tot sein soll. Dass sie ermordet worden sein soll. Das ist doch Unsinn. Wer sollte so etwas tun? Haben Sie schon einen Verdacht?«
»Fahren wir erst einmal in die Gerichtsmedizin, in die Unikliniken. Anschließend können wir uns hier über alles in Ruhe unterhalten.«
Zu dritt fuhren sie in Siebels BMW nach Frankfurt-Niederrad, zur Uniklinik am Main. Dort wurden die Leichen untersucht und obduziert, die keines natürlichen Todes gestorben waren. Die Frankfurter Uniklinik verfügte über die besten Pathologen im Land, in diesem Fall waren aber keine Spezialisten nötig, um die Todesumstände aufzuklären.
Siebels kannte den Weg in die Pathologie, er war hier ein alter Bekannter, mit den meisten Ärzten war er mittlerweile per Du. Heute hatte Dr. Grimaczek Dienst. Er führte Siebels und Tanjas Eltern in den gekühlten sterilen Raum, wo die sterblichen Überreste von ungeklärten Todesfällen aufbewahrt wurden. Langsam, mit zitternden Schritten bewegten sich Peter Niehaus und seine Frau auf den Edelstahltisch zu, auf dem ihre Tochter liegen sollte. Unter einem weißen Tuch schauten Füße heraus. Frauenfüße, am rechten großen Zeh hing ein Zettel, so wie Peter Niehaus es schon oft im Fernsehen gesehen hatte. Behutsam schob Siebels das Tuch von dem leblosen Körper. Die Eltern betrachteten für einige Sekunden ihre tote Tochter, nun hatten sie Gewissheit, Tanja lag vor ihnen. Maria Niehaus reagierte als Erste, indem sie einen Kreislaufzusammenbruch erlitt. Siebels konnte sie gerade noch auffangen und trug sie aus dem kalten Raum heraus. Peter Niehaus zeigte keinerlei Reaktion, als seine Frau zusammenbrach. Mit leerem Blick starrte er auf seine Tochter. Er streckte die Hand aus, strich ihr eine Haarsträhne aus der Stirn, beugte sich über sie und gab ihr einen letzten Kuss.
Siebels kümmerte sich um Maria Niehaus, die wieder zu sich gekommen war. Sie gab sich alle Mühe, die Haltung zu bewahren. Und nach kurzer Zeit gelang ihr das auch. Sie trocknete ihre Tränen, sah Siebels mit einem schmerzvollen Blick in die Augen. »Warum?«
Siebels wusste noch keine Antwort auf diese Frage. Er musste ihrem Blick ausweichen. Dem Blick einer Mutter, die ihre einzige Tochter auf tragische Weise verloren hatte. Er senkte seine Augen zum Boden. »Ich weiß es nicht, noch nicht.«
Peter Niehaus kam nun mit schnellen Schritten auf sie zu. »Lassen Sie uns ins Präsidium zurückfahren.« Er sagte dies in einem rauen Befehlston, nahm seine Frau am Arm und zog sie mit sich zum Ausgang. Siebels folgte ihnen.
Im Präsidium führte Siebels die beiden in das Besprechungszimmer, in dem er vor kurzer Zeit noch von Sabine Karlson über die Hintergründe von Kontaktanzeigen mit 0190er-Nummern aufgeklärt worden war. Siebels wollte den beiden gerade einen Kaffee anbieten, als Till ins Büro trat und ihn zu sich winkte. Siebels schloss die Verbindungstür zwischen ihrem Büro und dem Besprechungszimmer. Durch eine Glasscheibe konnte er das Ehepaar beobachten. Sie sprachen kein Wort miteinander. Niehaus stellte sich vor das Fenster und schaute hinaus, drehte seiner Frau den Rücken zu. Sie saß wie ein Häufchen Elend am Tisch und starrte auf den Boden.
»Was gibt es denn?«
»Ich war vor einer halben Stunde bei den Jungs von der Spurensicherung, sie kamen gerade aus Tanjas Wohnung. Sie haben eine Arztrechnung über einen Schwangerschaftsabbruch gefunden. Ich habe mich auch gleich mit dem Arzt in Verbindung gesetzt. Erst wollte er nicht raus mit der Sprache, hat sich auf seine Schweigepflicht berufen. Ich konnte ihn aber davon überzeugen, dass seine Patientin einem Verbrechen zum Opfer gefallen ist. Er bestätigte mir dann, dass sie in der sechsten Schwangerschaftswoche eine Abtreibung von ihm durchführen ließ. Das war im Februar, also ziemlich genau vor einem halben Jahr.«
»Das ist ja interessant. Dann haben wir ja vielleicht einen ersten Verdächtigen. Der Vater von Tanjas Kind, der es nicht ertragen hat, dass sie es abgetrieben hat. Er war über ihrem freizügigen Lebenswandel im Bilde, das nagte sowieso schon an ihm. Dann lässt sie sein Kind abtreiben, wahrscheinlich wusste er nicht einmal was davon, bis es zu spät war. Im Schwimmbad ist vielleicht etwas vorgefallen, dass das Fass dann zum Überlaufen gebracht hat. Wir wissen, dass sie vorher Kokain konsumiert hatte. Nehmen wir mal an, sie wollten sich beim Nachtschwimmen amüsieren und anschließend trieben sie es auf der Liegewiese. Für ihn sollte es ein romantischer Abend unter Vollmond werden, aber Tanja wollte mehr, als nur eine kleine Nummer im Freien schieben. Sie war im Kokainrausch, sie wollte das volle Programm. Sie hat ihm einen geblasen und ihn dann aufgefordert, sie von hinten zu nehmen. Er liebte sie, war verrückt nach ihr, gab ihr, was sie von ihm verlangte. Gleichzeitig hasste er sie. Er hasste sie, weil sie mit ihm spielte, weil sie sein Kind abgetrieben hatte, weil sie unersättlich war. Aber er folgte ihren sexuellen Begierden, er konnte sich ihrer erotischen Anziehungskraft nicht widersetzen. Er vögelte sie von hinten, würgte sie dabei, weil sie das noch mehr stimulierte. Sie ließ sich völlig gehen, schwebte im Kokainrausch ihrem Orgasmus entgegen, da machte sie eine unüberlegte Bemerkung. Das brachte ihn zur Weißglut. Er liebte sie voller Leidenschaft, gleichzeitig würgte er sie voller Hass. Liebe und Hass, ganz nah beieinander. Doch dann siegte der Hass, er drückte fester und länger zu als sonst, wenn er ihr beim Liebesakt die Kehle drosselte. Er verlor die Kontrolle, penetrierte und würgte sie wie von Sinnen. Plötzlich spürte er keinen Widerstand mehr, nur noch einen leblosen Körper. Als er bemerkte, was er angerichtet hatte, war es zu spät. Aber der Hass über sie war immer noch da. Also brandmarkte er sie als eine kleine geile Schlampe. Ließ sie so in der Öffentlichkeit zurück, entblößt und gedemütigt.«
Till klopfte Siebels anerkennend auf die Schulter. »Sieh mal einer an. Kaum gibt man dir ein paar Fakten, schon hast du einer toten Frau und ihrem Liebhaber, von denen du bis gestern noch nichts wusstest, bis in die tiefsten Winkel ihrer dunklen Seelen geschaut. Ich bin beeindruckt. Mich würde aber sehr interessieren, was für eine Bemerkung sie gemacht haben könnte, die ihn so zum Ausrasten gebracht hat.«
»Dann lass deiner Fantasie mal freien Lauf und sag mir Bescheid, wenn dir was einfällt.«
»Jedenfalls gefällt mir diese Theorie schon wesentlich besser als die Unfalltheorie.«
»Die sollten wir aber auf jeden Fall auch in die engere Wahl ziehen. Kommst du mit, ich werde ihren Eltern mal ganz behutsam auf den Zahn fühlen.«
Siebels setzte sich gegenüber von Maria Niehaus, Peter Niehaus blieb am Fenster stehen. Till setzte sich in eine Ecke vom Zimmer und nahm die Rolle des Zuschauers ein. Siebels führte das Gespräch.
»Wie war Ihr Verhältnis zu Ihrer Tochter?«
Maria Niehaus öffnete langsam ihren Mund, holte Luft, doch bevor sie etwas sagen konnte, antwortete ihr Mann.
»Sie war unsere Tochter, unser einziges Kind. Wir haben sie geliebt. Es gab Meinungsverschiedenheiten, so wie in jeder normalen Familie. Aber wir haben über alles gesprochen, manchmal habe ich mich mit ihr auch gestritten. Aber es gab nie ernsthafte Probleme zwischen Tanja und uns. In den letzten Jahren war der Kontakt nicht mehr so intensiv. Vor zwei Jahren ist sie bei uns ausgezogen, sie hat sich eine Wohnung in Sachsenhausen genommen. Nach ihrem Abitur, das sie übrigens als Jahrgangsbeste mit einer Eins abgeschlossen hat, hat sie eine Ausbildung bei der Deutschen Bank gemacht. Sie wollte im Anschluss an die Ausbildung Betriebswirtschaftslehre studieren. Die Bank hat ihr dann aber ein lukratives Angebot gemacht und sie hat das Studium erst einmal verschoben. Ich war gegen diese Entscheidung. Ich wollte, dass sie gleich mit dem Studium beginnt, sonst hätte sie es nämlich nie begonnen. Sie hätte sich sehr schnell an das regelmäßige Einkommen gewöhnt, das Studium wäre in Vergessenheit geraten. Das war meine Meinung, die ich ihr auch deutlich gesagt habe. Und das war der letzte Streit, den ich mit ihr hatte. Einen Streit, weil ich nur das Beste für sie wollte. Aber Tanja wollte unabhängig sein. Und sie wollte schon gar keine Ratschläge von mir haben. Und am wenigsten wollte sie, dass ich mich in ihr Leben einmische.« Die letzten Sätze sprach Niehaus immer langsamer und bedächtiger aus. Seine Frau fing an zu schluchzen.
Siebels reichte ihr ein Taschentuch. »Wussten Sie, dass Ihre Tochter vor sechs Monaten einen Schwangerschaftsabbruch hat vornehmen