»Sollte sich etwas Interessantes finden lassen, werde ich Sie gern informieren, Frau Karlson.« Till hatte sich nun einigermaßen an die Anwesenheit der blonden Kollegin gewöhnt und konnte wieder klare Gedanken fassen. »Hat der Obduktionsbericht noch etwas Neues ergeben?«
Siebels zündete sich eine Zigarette an. »Ja, das hat er. Es hat sich bestätigt, dass der Täter Tanja Niehaus von hinten erwürgte.« Siebels nahm den Bericht in die Hand und zitierte einige Passagen. »... kann Tod durch Erstickung bescheinigt werden. Die äußeren Befunde wie Würgespuren am Hals sowie Punktblutungen im Gesichtsbereich, insbesondere um die Augenregion, sind eindeutig auf eine Kompression der Halsgefäße zurückzuführen, die einen Verschluss der oberen Atemwege zur Folge hatten. Die inneren Befunde lassen den gleichen Schluss zu. Subepikardiale Blutungen am Herz und hypopleurale Blutungen in der Lunge, auch Tardieu’sche Flecken genannt, sind typische makroskopische Befunde, wie sie beim Tod durch Erstickung auftreten und entstehen durch Zerreißen von Blutgefäßen bei forcierten Atembewegungen. Des Weiteren deuten auch sämtliche mikroskopischen Befunde auf Tod durch Erstickung hin. Im Einzelnen sind dies eine Schwellung der Neuroglia sowie fleckenförmige Ödeme in verschiedenen Hirnteilen. In der Lunge wurde eine Zerreißung der Alveolarsepten sowie eine Schwellung der Aveolarzellen festgestellt. Die mikroskopisch sichtbaren Zellschädigungen in verschiedenen Organen sind Zeichen des Sauerstoffmangels, wie er bei Tod durch Erstickung eintritt. Da sich die Zeichen des Sauerstoffmangels als mikroskopisch sichtbare Zellschädigungen nur bei stark prolongierten Erstickungsvorgängen feststellen lassen, muss davon ausgegangen werden, dass die Asphyxie sich über einen Zeitraum von mindestens fünfzehn Minuten hingezogen hat, bis der Tod eingetreten ist.«
Siebels schlug den Bericht wieder zu, die weiteren Ergebnisse der Obduktion und die Schlussfolgerungen der Gerichtsmedizin wollte er Till lieber in seinen eigenen Worten wiedergeben.
»Sie wurde also mindestens fünfzehn Minuten lang gewürgt, vielleicht auch länger, bis der Tod eintrat. Und jetzt kommt’s. Die Gerichtsmediziner haben festgestellt, dass sie zum Todeszeitpunkt unter der Einwirkung von Kokain stand. Die Risswunden im vaginalen und analen Bereich sind nicht viel älter als der Todeseintritt. Eine Vergewaltigung schließt die Gerichtsmedizin allerdings aus. Im Gegenteil, Blutuntersuchungen lassen den Schluss zu, dass sie kurz vor Todeseintritt noch einen Orgasmus hatte.«
»Das können die feststellen? Wow.«
»Ja, anhand von Endorphinen, die beim Orgasmus gebildet werden. Die Ergebnisse der Obduktion deuten darauf hin, dass sie gewürgt wurde, während sie analen Verkehr hatte. Sie hat sich also wahrscheinlich freiwillig würgen lassen, vielleicht hat sie sogar darauf bestanden, weil sie unter Sauerstoffmangel ihren Orgasmus noch intensiver erleben wollte. Wir müssen also davon ausgehen, dass es sich nicht um einen Mord, sondern um einen Unfall mit Todesfolge handelte. Es wurden keine Spermaspuren gefunden, wahrscheinlich hat der Täter also ein Kondom benutzt. Auch das spricht gegen eine Vergewaltigung. Es gibt auch sonst keine Spuren, die darauf hindeuten, dass sie sich gewehrt hätte. Unter den Fingernägeln wurde weder Gras noch Erde gefunden, dafür aber Fasern von einem Handtuch. Dieselben Fasern wurden auch am ganzen Körper gefunden, dafür wurde kein einziger brauchbarer Fingerabdruck auf ihrer Haut entdeckt. Noch nicht mal ihre eigenen Abdrücke. Wir müssen davon ausgehen, dass sie ausgiebigen Sex miteinander hatten, dass er sie dabei versehentlich erwürgt und die Leiche hinterher fein säuberlich mit dem Handtuch abgewischt hat. Anschließend hat er ihr mit Lippenstift den Spruch auf den Rücken geschrieben. Dass es sich tatsächlich um Lippenstift handelt, wurde auch eindeutig festgestellt.«
Tills Gesichtsausdruck zeigte deutlich, dass er mit der Unfall-Theorie nicht glücklich war. »Das macht doch keinen Sinn, warum sollte er ihr auf den Rücken schreiben, dass sie eine kleine geile Schlampe ist, wenn es gar nicht seine Absicht war, sie zu töten?«
»Darüber habe ich mir auch schon den Kopf zerbrochen. Als ich nicht weiterkam, habe ich mir im Drogendezernat einen Merkzettel über die Auswirkungen von Kokain besorgt. Ich lese dir mal das Wesentliche vor: Der Kokainberauschte ist weniger gehemmt, wirkt enthusiastisch und direkter im Umgang. Insbesondere sexuelle Hemmungen fallen, bei erhöhter Libido und verzögertem Eintritt des Orgasmus. Sein Eingreifen in den Gesamtorganismus macht die Faszination des Gebrauchs aus. Kokain vermittelt Exotik und Erotik bei gleichzeitiger Energiegeladenheit und gesteigerter Leistungsfähigkeit. Von seiner Fähigkeit, die Erektion zu verlängern sowie den Orgasmus hinauszögern zu können und ihn intensiver zu erleben, wird häufiger berichtet. Bei zu hohen Dosen oder Dauergebrauch kann die erotisierende Wirkung aber auch umschlagen, Erektions- und Orgasmusschwierigkeiten können die Folge sein. Kokain gilt als Ego-Droge, denn sein Gebrauch senkt zuweilen die Bereitschaft, sich auf andere einzulassen.« Siebels schaute zu Till, aber dessen Gesichtsausdruck blieb weiter skeptisch. »Tanja konsumierte regelmäßig Kokain, sie hatte entzündliche Verätzungen der Nasenschleimhäute und der Nasenscheidewände«, fuhr Siebels in seinen Ausführungen fort. »Ich habe mir folgende Theorie zurechtgelegt, davon ausgehend, dass auch der Täter unter der Einwirkung von Kokain stand. Die beiden hatten also Geschlechtsverkehr in allen Varianten. Während Tanja aber eine gesteigerte Libido empfand und im Rausch der Droge auf ihren Höhepunkt zusteuerte, dessen Auswirkungen sie noch intensiver erleben wollte, indem sie sich würgen ließ, hatte das Kokain bei ihm die entgegengesetzte Wirkung. Vielleicht hatte er eine zu hohe Dosis genommen. Jedenfalls hatte er Schwierigkeiten, zum Orgasmus zu kommen. Also nahm er sie härter, würgte sie fester. Er verlor die Kontrolle über sich und drosselte sie immer heftiger. Bis sie tot war. Dann merkte er, was er da angerichtet hatte. Die Wirkung des Kokains ließ nach, er kam herunter von der Droge, durchlebte dabei eine depressive Phase. Tanja lag tot vor ihm. Erst hatte sie ihren Orgasmus, der ihm vorenthalten blieb, dann blieb sie leblos liegen und ließ ihn allein zurück. In seiner depressiven Phase gab er ihr die Schuld an dem Desaster. Er wischte die Leiche ab, das machte ihn noch depressiver. Er fand Tanjas Lippenstift in ihrer Tasche und schrieb ihr auf den Rücken, dass sie eine kleine geile Schlampe ist. Dann sammelte er die Klamotten und alles andere ein und machte sich aus dem Staub.«
»Nette Theorie«, bestätigte Till. »Das setzt aber voraus, dass die zwei sich gut kannten. Hätte er dann bei solch einer Nummer ein Kondom übergezogen? Ich bezweifele das.«
Sabine Karlson, die bis dahin aufmerksam zugehört hatte, schaltete sich in das Gespräch ein. »Vielleicht haben Sie Recht, vielleicht benutzte er wirklich kein Kondom. Das würde die Theorie von Herrn Siebels doch nur bekräftigen, dass er unter Einfluss von einer Überdosis Kokain Orgasmusschwierigkeiten hatte. Wäre er rechtzeitig zu seinem Höhepunkt gekommen, wäre vielleicht gar nichts passiert, so hat er sie aber immer weiter gewürgt und penetriert.«
Für Till war das keine befriedigende Theorie. Er überlegte kurz und präsentierte Siebels und Karlson einen anderen Denkansatz. »Es könnte aber auch genauso gut sein, dass der Treff im Schwimmbad ein Blind Date mit einer Internet-Bekanntschaft war. Sie hat sich mit einem Unbekannten getroffen. Die beiden konsumierten Kokain und gingen eine Runde Nachtschwimmen. Dann hatten sie Sex auf der Wiese. Tanja holte sich auf diese Weise ihren Kick. Der Täter bekommt seinen Kick aber auf andere Weise. Er erwürgt sie, während er sie penetrierte. Er hat die ganze Aktion im Voraus geplant und wusste genau, was er tut. Sein Opfer hat er im Internet kennen gelernt, es gab keine Verbindung zwischen Tanja und ihm. Er kann seine perverse Veranlagung nun ungestört ausleben. Und Tanja hat auch noch Spaß dabei. Das ist seine Rechtfertigung, die kleine Schlampe hat Spaß daran. Damit auch keine Missverständnisse auftreten, schreibt er ihr das auch noch auf den Rücken. Er lässt sie tot und gedemütigt zurück, teilt der Welt mit, dass sie es ja nicht besser verdient hat.«
»Gratuliere Herr Kollege, das ist eine Theorie, die wir auch verfolgen sollten. Deswegen hoffe ich, dass wir auf ihrem Computer brauchbare Spuren finden werden. Ihre Männerbekanntschaften hat sie nämlich mit Sicherheit auch über das Internet gemacht. Aus diesem Grund würden wir jetzt auch gerne ein paar Hintergrundinformationen zu Kontaktanzeigen mit 0190er-Nummern haben, Frau Karlson.« Siebels legte das Band aus Tanjas Anrufbeantworter in einen Rekorder und ließ es abspielen.