Anita gegenüber erwähnte er nichts davon. Er war überaus freundlich und hatte ihr sogar ein Geschenk mitgebracht. Es war eine hübsche Silberbrosche in Form eines Edelweiß. Doch das Madl lehnte sie ab und wollte auch sonst nichts von ihm annehmen, und das kränkte ihn.
»Treib es net auf die Spitz, Anita«, mahnte der Söllner, dem die Geldsorgen über den Kopf zu wachsen drohten. Schärfer redete er dann weiter: »Da drauf wirst dir hoffentlich nix einbilden, daß du einen Abend lang nur mit einem Burschen getanzt hast und von diesem lediglich den Vornamen weißt.«
»’s wird schon alles seine Richtigkeit mit ihm haben – zumal wo er doch am Tisch der Schützen gesessen hat«, entgegnete Anita etwas unwillig. Aber sie lächelte gleich, weil sie im Geiste wieder mit Lukas tanzte und seine Nähe wie etwas Berauschendes spürte.
Lukas hatte tatsächlich einen nachhaltigen Eindruck auf das stolze Söllner-Madl gemacht. Es hatte sofort zugesagt, als er vorgeschlagen hatte, sich in drei Tagen nachmittags am Rauhen Weiher zu treffen. Der Rauhe Weiher war ein idyllisches Fleckchen oberhalb des Tales. Zum Süden hin bot sich von dort aus der Blick über die drei Dörfer bis zur Gipfelkette, deren Zacken an klaren Tagen in den Himmel zu stoßen schienen. Im Norden und Osten ragten hinter dem Weiher schroffe Felsen empor. An der Westseite schlängelte sich in der Tiefe ein so enges Tal, daß die Fahrzeuge nur mit Mühe hindurchkamen und immer wieder lange Staus entstanden.
Hier sah Anita den Burschen wieder, der ihr so gut gefiel, daß sie ihn auf der Stelle hätte heiraten mögen. Lukas kam ihr mit strahlendem Gesicht entgegen. Er war zuvor dienstlich unterwegs gewesen, um dem Bauern eines nahegelegenen Hofes eine Nachricht zu übermitteln. Weil er sich bei diesem verplaudert hatte, war er auf dem eiligen Weg zum Rendezvous ins Schwitzen geraten.
»Hoffentlich hast net zu lang auf mich warten müssen!« sagte er, nachdem er ihr kräftig die Hand geschüttelt hatte.
»Ich bin auch grad erst gekommen«, schwindelte Anita. In Wirklichkeit befand sie sich seit fast einer Stunde hier heroben, weil die Ungeduld sie zu früh von daheim fortgetrieben hatte. Längst hatte sie keinen Blick mehr für diesen romantischen Ort mit seinem dunkelgrün schimmernden Wasser.
Lukas jedoch betrachtete alles mit stiller Freude an der noch unberührt erscheinenden Natur. Hier stand er zum erstenmal und war stark beeindruckt. Wie verwunschen lag der Rauhe Weiher im Sonnenlicht. Ein schmaler Waldstreifen trennte ihn von den steil ansteigenden Felswänden. Zwischen den Föhren war eine kleine Hütte mit grünen Fensterläden zu sehen. Die Stille ringsum hatte etwas Verschwiegenes, Geheimnisvolles und verlieh der Begegnung mit Anita einen ganz besonderen Zauber und Wert.
Lukas fuhr zusammen, als das Madl plötzlich auflachte und sagte: »Lukas – der Träumer! Du stehst da, als hättest nie zuvor einen Weiher gesehen.«
»Nicht einen so schönen, vom Tourismus unbelasteten«, antwortete er mit verhaltenem Ernst.
Da wurde Anita verlegen. Es war das erste Mal, daß sie sich an einer so abseits gelegenen Stelle mit einem Burschen traf. Ob Lukas das zu schätzen wußte? Vielleicht war er daran gewöhnt, einem Madl schnell zu gefallen?
»Du hättest dich an einem weniger einsamen Ort mit mir verabreden sollen!« stieß sie unvermittelt hervor.
Zu ihrer Überraschung nickte er und erwiderte: »Das hätt ich auch vorgeschlagen, ständ ich net im Augenblick unter Zeitdruck. Keineswegs möcht ich dich in Schwierigkeiten bringen, Anita. Ich hab zwar spontan, aber ehrlich gehandelt und werd’s auch weiterhin so halten.« Er schwieg und wartete darauf, daß sie Fragen stellte. Als sie es nicht tat, fühlte er sich enttäuscht.
»Gehen wir an diesem kleinen See entlang?« fragte er, als er sie grübelnd vor sich stehen sah.
Das Geräusch polternder Steine übertönte ihr Ja. Lukas fuhr herum, als wäre geschossen worden. Er spähte zu den Felsen hin und horchte. Dabei überlegte er, ob derjenige ihm sogar bis zu einem Rendezvous folgte, der seit kurzem so viel Schaden bei ihm anrichtete. Schon wollte er sich mit Anita entfernen, als Stimmen aufklangen und das hellblaue Kleid einer Frau zwischen dem Dunkel der Stämme schimmerte.
Anita blickte ärgerlich hinüber. Sie fühlte sich mit Absicht gestört und grollte denen, die offensichtlich auf ihrer Bergwanderung bis zum Rauhen Weiher gelangt waren. Dabei war kein Pfad hierher ausgeschildert. Und die Fremden da drüben hockten sich auch noch am Ufer ins Gras!
Der stille Zauber war gestört. Das schien auch Lukas zu empfinden. Er wandte sich halb ab, schaute an Anita vorbei ins Tal und zuckte aufs neue zusammen, als von drüben her ein Ruf erklang und dann deutlich der Satz: »Helfen Sie uns bitte!«
Sofort rannte Lukas am Ufer entlang, während Anita stehenblieb. Sie verschränkte die Arme vor der Brust, schob schmollend die Unterlippe vor und verfolgte Lukas mit vorwurfsvollem Blick.
Bald stellte sich heraus, daß es sich bei den Wanderern um ein junges Ehepaar handelte. Die Frau war beim Durchqueren einer schmalen Schlucht so unglücklich gestürzt, daß sie kaum mehr auftreten konnte. Lukas sah ihr schmerzverzerrtes Gesicht und entschied: »Ich bring Sie zum Doktor nunter. Ich hab mal etwas Ähnliches erlebt. Da war’s ein gesplitterter Knochen, der schlecht verheilt ist, weil man net sofort einen Arzt aufgesucht gehabt hat.«
»Ich fasse mit an«, sagte der junge Ehemann, der einen hilflosen Eindruck machte.
Die Söllner-Anita sah nun staunend mit an, wie die zwei die Frau im hellblauen Kleid zwischen sich nahmen und diese einen Arm um Lukas’ Nacken legte. Das löste ein Gefühl brennender Eifersucht in Anita aus. Finster schaute sie der kleinen Gruppe nach und hatte nicht das geringste Mitleid mit der Frau.
Als sie Minuten später auf der kleinen Lichtung am jenseitigen Ufer erschienen, winkte Lukas herüber und deutete dann mit der freien Hand talwärts. Obwohl Anita verstand, war sie wütend, weil er sie einfach hier so stehenließ. Aber sie konnte ihm nicht lange böse sein. Was auch immer er tat und sagte, sie mußte ihn heimlich bewundern. Neid war in ihr, als sie sich vorstellte, daß jene Frau ihn so vertraut berührte.
»Kommst zurück, Lukas?« schrie Anita hinüber.
»Dazu wird’s leider zu spät sein!« antwortete er ebenso laut. »Kannst am Samstag um die gleiche Zeit am Gamsmugl sein?«
Anita schüttelte heftig den Kopf und schrie ein Nein ans jenseitige Ufer. Nie würde sie freiwillig und sichtbar am Gamsmugl verweilen, denn ganz in der Näh hauste ja der verhaßte Jager!
»Komm zur Jausenstation, Lukas!« verlangte sie lauthals. »Von dort aus wirst einen noch schöneren Ausblick haben als hier!«
Er nickte wieder und verschwand mit dem Paar auf dem Pfad, der zum Waldrestaurant hinabführte. Jetzt war Anita allein und dermaßen enttäuscht, daß ihr Tränen in die Augen schossen. Sie hatte sich dieses Treffen mit Lukas anders vorgestellt und verwünschte alle fremden Wanderer.
Als brauchte sie etwas, um sich innerlich zu erleichtern, wählte sie nun spontan den Weg zu jenem Jägerhaus, das sie am hellichten Tag unbedingt hatte meiden wollen. Vorsichtig pirschte sie sich heran, als sie es im Sonnenschein vor sich liegen sah.
Der Jäger, der ihren Bruder auf dem Gewissen hatte und anscheinend deswegen niemals belangt werden würde, schien abwesend zu sein. Das Haus war fest verschlossen, nicht eins der Fenster offen. War er ängstlich geworden? Oder hatte ihm jemand geraten, alles vor jedem Fortgehen gut abzusichern?
Als Anita gerade neugierig durch eins der Fenster ins Innere schauen wollte, räusperte sich jemand hinter ihr. Sie schnellte herum und sah sich der alten Apollonia gegenüber, die auch ihr bekannt war.
»Da schau her – das Söllner-Dirndl!« stieß Apollonia überrascht hervor. »Hast dich verirrt? Wolltest dir am End auch amal von mir aus der Hand lesen lassen oder einen Zaubertrank erbitten?« erkundigte sie sich nicht ohne Spott.
»Weder – noch!« erwiderte Anita verlegen. Sie suchte fieberhaft nach einer glaubwürdigen Erklärung, während das alte Weib näher kam und sie ungeniert musterte. »Mein – mein Hundl hat sich anscheinend verlaufen, net ich«,