Ich habe begreiflich gemacht, daß verwöhnte Kinder sich außerhalb des Kreises der Verwöhnung stets bedroht, wie in Feindesland fühlen. Alle ihre verschiedenen Charakterzüge müssen mit ihrer Meinung vom Leben übereinstimmen, vor allem ihre oft nahezu unfaßbare Selbstliebe und Selbstbespiegelung. Daß alle diese Charakterzüge Kunstprodukte, daß sie erworben und nicht angeboren sind, geht daraus eindeutig hervor. Es ist nicht schwer einzusehen, daß alle Charakterzüge, entgegen der Auffassung der sogenannten Charakterologen, soziale Bezogenheiten bedeuten und aus dem vom Kinde gefertigten Lebensstil entspringen. So löst sich auch die alte Streitfrage auf, ob der Mensch von Natur aus gut oder böse sei. Der evolutionär wachsende, unaufhaltsame Fortschritt des Gemeinschaftsgefühls berechtigt zur Annahme, daß der Bestand der Menschheit mit dem »Gutsein« untrennbar verknüpft ist. Was scheinbar dagegen spricht, ist als Fehlschlag in der Evolution zu betrachten und läßt sich auf Irrtümer zurückführen, wie es ja auch unbrauchbares körperliches Material in den Tierspezies auf dem großen Versuchsfeld der Natur immer gegeben hat. Die Charakterlehre wird sich aber bald entschließen müssen zuzugeben, daß Charaktere wie »mutig, tugendhaft, faul, feindselig, standhaft usw.« sich immer nach unserer, sich stets verändernden Außenwelt richten und ohne diese Außenwelt einfach nicht existieren.
Es gibt, wie ich gezeigt habe, noch andere Bürden in der Kindheit, die wie die Verwöhnung das Wachstum des Gemeinschaftsgefühls verhindern. Auch in der Betrachtung dieser Hindernisse müssen wir ein waltendes kausales Grundgesetz bestreiten und wir sehen in ihren Auswirkungen nur ein verleitendes Moment, das sich in statistischer Wahrscheinlichkeit ausdrückt. Auch die Verschiedenheit und Einmaligkeit der individuellen Erscheinung darf nie übersehen werden. Sie ist der Ausdruck der nahezu willkürlich schaffenden Kraft des Kindes in der Gestaltung seines Bewegungsgesetzes. Diese anderen Bürden sind Vernachlässigung des Kindes und sein Besitz an minderwertigen Organen. Beide lenken, so wie die Verwöhnung, den Blick und das Interesse des Kindes vom »Mitleben« ab und wenden sie der eigenen Gefährdung und dem eigenen Wohle zu. Daß letzteres nur unter Voraussetzung eines genügenden Gemeinschaftsgefühls gesichert ist, soll weiterhin schärfer bewiesen werden. Aber es kann leicht verstanden werden, daß das irdische Geschehen dem sich entgegenstellt, der allzu wenig mit ihm in Kontakt, in Einklang ist.
Von allen drei Bürden der ersten Kindheit kann gesagt werden, daß die schaffende Kraft des Kindes sie einmal besser, einmal schlechter überwinden kann. Aller Erfolg oder Mißerfolg hängt vom Lebensstil, von der dem Menschen meist unbekannten Meinung von seinem Leben ab. In der gleichen Weise wie wir von der statistischen Wahrscheinlichkeit der Folgen dieser drei Bürden sprachen, müssen wir nun feststellen, daß auch die Fragen des Lebens, die großen wie die kleinen, auch nur eine, wenn auch bedeutende statistische Wahrscheinlichkeit als Schockfragen für die Stellung des Individuums zu ihnen aufweisen. Man kann wohl mit einiger Sicherheit die Folgen für ein Individuum voraussagen, wenn es in Berührung mit den Lebensfragen kommt. Man wird sich aber immer daran halten müssen, erst aus den richtig vorausgesagten Folgen auf die Richtigkeit einer Annahme zu schließen.
Daß die Individualpsychologie wie keine andere psychologische Richtung kraft ihrer Erfahrung und ihrer Wahrscheinlichkeitsgesetze Vergangenes erraten kann, ist wohl ein gutes Zeichen für ihre wissenschaftliche Fundierung.
Es obliegt uns nun, auch jene scheinbar untergeordneten Fragen darauf zu prüfen, ob auch sie zu ihrer Lösung ein entwickeltes Gemeinschaftsgefühl erfordern. Da stoßen wir in erster Linie auf die Stellung des Kindes zum Vater. Die Norm wäre ein nahezu gleiches Interesse für Mutter und Vater. Äußere Verhältnisse, die Persönlichkeit des Vaters, Verwöhnung durch die Mutter, oder Krankheiten und schwierige Organentwicklung, deren Pflege mehr der Mutter zufallen, können zwischen Kind und Vater eine Distanz schaffen und so die Ausbreitung des Gemeinschaftsgefühls hindern. Das strengere Eingreifen des Vaters, wenn er die Folgen der Verzärtelung durch die Mutter verhindern will, vergrößert nur diese Distanz. Ebenso der von der Mutter oft unverstandene Hang, das Kind auf ihre Seite zu ziehen. Überwiegt die Verwöhnung durch den Vater, so wendet sich das Kind ihm zu und von der Mutter weg. Dieser Fall ist stets als zweite Phase im Leben eines Kindes zu verstehen und zeigt an, daß das Kind durch seine Mutter eine Tragödie erlebt hat. Bleibt es als verwöhntes Kind an der Mutter haften, so wird es sich mehr oder weniger wie ein Parasit entfalten, der alle Bedürfnisbefriedigungen, gelegentlich auch sexuelle, von seiner Mutter erwartet. Dies um so eher, als der im Kinde erwachte Sexualtrieb das Kind in einer Stimmungslage findet, in der es sich keinen Wunsch zu versagen gelernt hat, weil es stets nur die Befriedigung aller Wünsche von der Mutter erwartet. Was Freud als den Ödipuskomplex bezeichnet hat, der ihm als die natürliche Grundlage der seelischen Entwicklung erscheint, ist nichts als eine der vielen Erscheinungsformen im Leben eines verwöhnten Kindes, das der widerstandslose Spielball seiner aufgepeitschten Wünsche ist. Dabei müssen wir davon absehen, daß derselbe Autor mit unbeirrbarem Fanatismus alle Beziehungen eines Kindes zu seiner Mutter in ein Gleichnis zwängt, dessen Grundlage für ihn der Ödipuskomplex abgibt. Ebenso müssen wir es ablehnen, was vielen Autoren eine plausible Tatsache zu sein scheint, anzunehmen, daß von Natur aus die Mädchen sich mehr dem Vater, die Knaben mehr der Mutter anschließen. Wo dies ohne Verwöhnung geschehen ist, dürfen wir darin ein Verständnis für die künftige Geschlechtsrolle erblicken, für ein viel späteres Stadium also, in dem das Kind in spielerischer Weise, meist ohne dafür den Geschlechtstrieb in Bewegung zu setzen, sich für die Zukunft vorbereitet, wie es dies ja auch in anderen Spielen durchführt. Frühzeitig erwachter und nahezu unbezähmbarer Sexualtrieb spricht in erster Linie für ein egozentrisches Kind, meist für ein verwöhntes, das sich keinen Wunsch versagen kann.
Auch die Stellung zu den Geschwistern, als Aufgabe betrachtet, kann den Grad der Kontaktfähigkeit des Kindes erkennen lassen. Die oben gekennzeichneten drei Gruppen von Kindern werden zumeist das andere Kind, besonders ein jüngeres, als Hindernis und Einengung ihres Einflusses empfinden. Die Wirkungen sind verschieden, hinterlassen aber in der plastischen Periode des Kindes einen so großen Eindruck, daß er zeitlebens als Charakterzug zu erkennen ist, als dauernder Wettlauf im Leben, als Sucht zu dominieren, im mildesten Fall als ein dauernder Hang, den anderen wie ein Kind zu behandeln. Viel bei dieser Ausgestaltung hängt von Erfolg oder Mißerfolg im Wettbewerb ab. Den Eindruck aber, durch ein jüngeres Kind aus seiner Stellung verdrängt worden zu sein, wird man insbesondere bei verwöhnten Kindern samt den von dem Kind geschaffenen Folgen nie vermissen.
Eine andere Frage betrifft das Verhalten des Kindes zum Kranksein und die Stellungnahme, zu der es sich entschließt. Das Verhalten der Eltern dazu, insbesondere bei schwerer scheinenden Krankheiten, wird von dem Kinde in seine Rechnung einbezogen. Frühzeitige Erkrankungen wie Rachitis, Lungenentzündung, Keuchhusten, Veitstanz, Scharlach, Kopfgrippe usw., bei denen das Kind das unvorsichtig ängstliche Wesen der Eltern erlebt, können nicht nur das Leiden schlimmer erscheinen lassen, als es in Wirklichkeit ist, eine ungewöhnliche Gewöhnung an Verzärtelung erzeugen und dem Kinde ein mi menses Wertgefühl ohne Kooperation nahelegen, sondern auch zu einer Neigung zum Kranksein und zu Klagen führen. Setzt bei erlangter Gesundheit die ungewöhnliche Verwöhnung aus, dann findet man oft das Kind ungebärdig oder unter einem dauernden Krankheitsgefühl, mit Klagen über Müdigkeit, Eßunlust oder mit andauerndem grundlosem Husten, Erscheinungen, die nicht selten als Folgen der Krankheit, häufig mit Unrecht, angesehen werden. Solche Kinder haben eine Neigung,