Bei dem Suchen nach den Wurzeln des Gemeinschaftsgefühls, die Möglichkeit einer Entwicklung desselben beim Menschen vorausgesetzt, stoßen wir sofort auf die Mutter als den ersten und wichtigsten Führer. Die Natur hat sie dazu bestellt. Ihre Beziehung zu dem Kinde ist die einer innigen Kooperation (Lebens � und Arbeitsgemeinschaft), bei der beide gewinnen, nicht wie manche glauben, eine einseitige, sadistische Ausbeutung der Mutter durch das Kind. Der Vater, die anderen Kinder, die Verwandten und Nachbarn haben dieses Werk der Kooperation zu fördern, indem sie das Kind als einen gleichberechtigten Mitarbeiter zum Mitmenschen, nicht zum Gegenmenschen anleiten. Je mehr das Kind den Eindruck gewinnt von der Verläßlichkeit und Mitarbeit der anderen, um so eher wird es zum Mitleben und zum selbständigen Mitarbeiten geneigt sein. Es wird alles, was es besitzt, in den Dienst der Kooperation stellen.
Wo aber die Mutter allzudeutlich von übertriebener Zärtlichkeit überfließt und dem Kind die Mitarbeit in seinem Verhalten, Denken und Handeln, wohl auch im Sprechen, überflüssig macht, wird das Kind eher geneigt sein, sich parasitär (ausbeutend) zu entwickeln und alles von den anderen zu erwarten. Es wird sich immer in den Mittelpunkt drängen und bestrebt sein, alle anderen in seinen Dienst zu stellen. Es wird egoistische Tendenzen entfalten und es als sein Recht ansehen, die anderen zu unterdrücken, von ihnen immer verwöhnt zu werden, zu nehmen und nicht zu geben. Ein oder zwei Jahre eines solchen Trainings genügen, um der Entwicklung des Gemeinschaftsgefühls und der Neigung zur Mitarbeit ein Ende zu setzen. Einmal in Anlehnung an andere, ein andermal in der Sucht, andere zu unterdrücken, stoßen sie sehr bald auf den für sie unüberwindlichen Widerstand einer Welt, die Mitmenschlichkeit, Mitarbeit verlangt. Ihrer Illusionen beraubt, beschuldigen sie die anderen und sehen im Leben immer nur das feindliche Prinzip. Ihre Fragen sind pessimistischer Art. »Was hat das Leben für einen Sinn?« »Warum soll ich meinen Nächsten lieben?« Wenn sie sich den legitimen Forderungen einer aktiven Gemeinschaftsidee fügen, so nur, weil sie anderseits den Rückstoß, die Strafe fürchten. Vor die Frage der Gemeinschaft, der Arbeit, der Liebe gestellt, finden sie nicht den Weg des sozialen Interesses, erleiden einen Schock, verspüren dessen Wirkung körperlich und geistig und treten den Rückzug an, bevor oder nachdem sie ihre sinngemäße Niederlage erlitten haben. Aber immer bleiben sie bei ihrer von Kindheit an gewohnten Haltung, daß ihnen ein Unrecht geschehen sei.
Man kann nun auch verstehen, daß alle Charakterzüge nicht nur nicht angeboren sind, sondern in erster Linie Beziehungen ausdrücken, die ganz dem Lebensstil eingeordnet sind. Sie sind Mitprodukt aus des Kindes schöpferischem Wirken. Das verwöhnte Kind, zur Selbstliebe verleitet, wird egoistische, neidische, eifersüchtige Züge in höherem, wenn auch verschiedenem Maße entwickeln, wird, wie in Feindesland lebend, Überempfindlichkeit, Ungeduld, Mangel an Ausdauer, Neigung zu Affektausbrüchen und ein gieriges Wesen zeigen. Die Neigung zum Rückzug und eine übergroße Vorsicht sind dabei gewöhnliche Erscheinungen.
Die Gangart, bildlich gesprochen, einer verwöhnten Person ist in günstigen Situationen manchmal nicht leicht zu durchschauen. Viel leichter in ungünstiger Lage, wenn das Individuum auf den Bestand seines Gemeinschaftsgefühls einer Prüfung ausgesetzt ist. Dann findet man es in einer zögernden Haltung, oder es macht in einer größeren Distanz zu seinem Problem halt. Das Individuum erklärt diese Distanz mit Scheingründen, die zeigen, daß es sich dabei nicht um die Vorsicht des Klugen handelt. Oft wechselt es seine Gesellschaft, seine Freunde, seine Liebespartner, seinen Beruf, ohne bis zu einem gedeihlichen Ende zu gehen. Gelegentlich stürmen solche Menschen im Beginn einer Aufgabe mit solcher Hast vorwärts, daß der Kenner sofort auf den Gedanken kommt, wie wenig Selbstvertrauen darin steckt und wie bald der Eifer nachlassen wird. Andere von den Verwöhnten werden zu Sonderlingen, möchten sich am liebsten in die Wüste zurückziehen, um allen Aufgaben auszuweichen. Oder sie lösen eine Aufgabe nur teilweise und schränken so ihren Wirkungskreis entsprechend ihrem Minderwertigkeitskomplex stark ein. Wenn sie über einen gewissen Fonds von Aktivität verfügen, der gewiß nicht »Mut« zu nennen ist, so schweifen sie leicht in einer etwas drückenden Lage ins Gebiet des sozial Unnützlichen, ja Schädlichen ab, werden Verbrecher, Selbstmörder, Trinker oder Perverse.
Es ist nicht für jeden leicht, sich mit dem Leben einer sehr verwöhnten Person zu identifizieren, das heißt sie ganz zu verstehen. Man muß schon wie ein guter Schauspieler diese Rolle innehaben und im ganzen Lebenskreis verstehen, wie man sich zum Mittelpunkt macht, wie man nach jeder Situation Ausblick halten muß, in der man andere niederdrückt, niemals Mitarbeiter ist, wo man alles erwarten, aber nichts geben muß. Man muß erkannt haben, wie sie die Mitarbeit anderer für sich auszubeuten trachten, Freundschaft, Arbeit und Liebe, wie sie nur für ihr eigenes Wohl, für ihre eigene, persönliche Überheblichkeit Interesse haben und immer nur an Erleichterungen ihrer Aufgaben zu ungunsten anderer denken, um zu verstehen, daß nicht Vernunft sie leitet. Das seelisch gesunde Kind entwickelt Mut, allgemeingültige Vernunft und aktive Anpassungsfähigkeit. Das verwöhnte Kind hat nichts oder wenig von all diesem, dafür Feigheit und Tricks. Dazu einen außerordentlich eingeengten Pfad, so daß es immer in den gleichen Fehler verfallen erscheint. Ein tyrannisches Kind erscheint immer tyrannisch. Ein Taschendieb bleibt immer bei seinem Handwerk. Der Angstneurotiker beantwortet alle Aufgaben des Lebens mit Angst. Der Süchtige bleibt bei seinem Gift. Der sexuell Perverse zeigt keine Neigung zu Abweichungen von seiner Perversion. In dem Ausschluß anderer Leistungen, in dem engen Pfad, auf dem ihr Leben abläuft, zeigt sich wieder deutlich ihre Lebensfeigheit, ihr mangelndes Selbstvertrauen, ihr Minderwertigkeitskomplex, ihre Ausschaltungstendenz.
Die geträumte Welt verwöhnter Personen, ihre Perspektive, ihre Meinung und Auffassung vom Leben, unterscheidet sich ungeheuer von der wirklichen Welt. Ihre Anpassung an die Evolution der Menschheit ist mehr oder weniger erwürgt, und dies bringt sie unaufhörlich in Konflikte mit dem Leben, an deren schädlichen Resultaten die anderen mitleiden. Wir finden sie in der Kindheit unter den überaktiven und passiven Kindern, später unter den Verbrechern, Selbstmördern, Nervösen und Süchtigen, immer voneinander verschieden. Meist unbefriedigt sehen sie mit verzehrendem Neid auf die Erfolge der anderen, ohne sich aufzuraffen. Immer bannt sie die Furcht vor einer Niederlage, vor der Aufdeckung ihrer Wertlosigkeit, meist sieht man sie auf dem Rückzug vor den Aufgaben des Lebens, für den sie um Ausreden nie verlegen sind.
Daß manche von ihnen Erfolge im Leben erringen, soll nicht übersehen werden. Es sind diejenigen, die überwunden und aus ihren Fehlern gelernt haben.
Die Heilung und Umwandlung solcher Personen kann nur