Eine andere Art von Aktivität, nicht gegen die eigene Person gerichtet, sondern gegen andere, wird frühzeitig von Kindern erworben, die der Meinung verfallen, als ob die anderen ihre Objekte wären, und die dieser Meinung dadurch Ausdruck geben, daß sie durch ihre Haltung das Gut, die Arbeit, die Gesundheit und das Leben der anderen bedrohen. Wie weit sie dabei gehen, hängt wieder vom Grad ihres Gemeinschaftsgefühls ab. Und man wird im Einzelfall immer wieder diesen Punkt zu berücksichtigen haben. Es ist begreiflich, daß diese durch Gedanken, Gefühle und Stimmungen, durch Charakterzüge und Handlungen ausgedrückte Anschauung vom Sinn des Lebens, die nie in wohlgefaßten Worten zutage tritt, ihnen das wirkliche Leben mit seiner Forderung nach Gemeinschaft schwierig macht. Die Empfindung der Feindlichkeit des Lebens bleibt bei dieser stets sofort Befriedigung verlangenden, als berechtigt gefühlten Erwartung nicht aus. Dazu kommt, daß diese Stimmung sich enge mit dem Gefühl des Beraubtseins verbündet, wodurch Neid, Eifersucht, Habgier und ein Streben nach Überwältigung des gewählten Opfers dauernd und in hohem Grade wach bleiben. Da das Streben nach nützlicher Entwicklung im mangelhaften Gemeinschaftsgefühl zurückbleibt, die starken Erwartungen, genährt durch den Überlegenheitstaumel, unerfüllt bleiben, sind Affektsteigerungen oft der Anlaß zu Angriffen auf andere. Der Minderwertigkeitskomplex wird dauernd, sobald das Scheitern auf der Linie der Gemeinschaft, in der Schule, in der Gesellschaft, in der Liebe fühlbar wird. Die Hälfte der zur Verbrechensausübung gelangenden Menschen sind ungelernte Arbeiter und haben schon in der Schule versagt. Eine große Anzahl der eingelieferten Verbrecher leidet an Geschlechtskrankheiten, einem Zeichen unzureichender Lösung des Liebesproblems. Ihre Genossen suchen sie nur unter ihresgleichen und bekunden so die Enge ihrer freundschaftlichen Gefühle. Ihr Überlegenheitskomplex stammt aus der Überzeugung, ihren Opfern überlegen zu sein und bei richtiger Ausführung den Gesetzen und ihren Organen ein Schnippchen schlagen zu können. In der Tat, es gibt wohl keinen Verbrecher, der nicht mehr auf dem Kerbholz hätte, als man ihm nachweisen kann, ganz abgesehen von den immerhin zahlreichen Verbrechen, die nie aufgedeckt werden. Der Verbrecher begeht seine Tat in der Illusion, nicht entdeckt zu werden, wenn er es nur richtig anfaßt. Wird er überführt, so ist er ganz von der Überzeugung in Beschlag genommen, eine Kleinigkeit versäumt zu haben, derzufolge er entdeckt wurde. Verfolgt man die Spuren der Verbrechensneigung zurück in das kindliche Leben, so findet man neben der frühzeitigen übel angewandten Aktivität mit ihren feindseligen Charakterzügen und neben dem Mangel Gemeinschaftsgefühl Organminderwertigkeiten, Verwöhnung und Vernachlässigung als die verleitenden Anlässe zur Entwicklung des verbrecherischen Lebensstils. Verwöhnung ist der vielleicht häufigste Anlaß. So wie eine Besserung des Lebensstils niemals ausgeschlossen werden kann, ist es auch nötig, jeden einzelnen Fall auf den Grad seines Gemeinschaftsgefühls zu untersuchen und die Schwere des exogenen Faktors in Betracht zu ziehen. Niemand unterliegt der Gefahr der Versuchung so leicht wie ein verzärteltes Kind, das darauf trainiert ist, alles zu bekommen, was es will. Die Größe der Versuchung muß genau erfaßt werden, die für den mit Verbrechensneigung Behafteten sich um so gefährlicher auswirkt, als er über Aktivität verfügt. Auch im Falle des Verbrechens ist es klar, daß wir das Individuum in seiner Bezogenheit zu den gesellschaftlichen Zuständen erfassen müssen. In vielen Fällen könnte das vorhandene Gemeinschaftsgefühl genügen, einen Menschen vom Verbrechen fernzuhalten, wenn nicht allzu große Anforderungen an sein Gemeinschaftsgefühl gestellt werden. Dieser Umstand erklärt es auch, warum unter schlechten Verhältnissen die Zahl der Verbrechen eine namhafte Steigerung erfährt. Daß dieser Umstand nicht die Ursache des Verbrechens ist, zeigt die Tatsache, daß in den Vereinigten Staaten in der Zeit der Prosperität ebenfalls ein Anstieg der Verbrechenszahl zu verzeichnen war, da die Verlockungen zu leichtem und raschem Reichtumserwerb zahlreich waren. Daß man beim Suchen nach Ursachen der Verbrechensneigung auch auf das schlechte Milieu in der Kindheit stößt, daß man in bestimmten Bezirken einer Großstadt eine Anhäufung von Verbrechen findet, läßt keineswegs den Schluß zu, als hätte man damit die Ursache gefunden. Es ist vielmehr leicht einzusehen, daß unter diesen Bedingungen eine gute Entwicklung des Gemeinschaftsgefühls nicht leicht zu erwarten ist. Man darf auch nicht daran vergessen, wie mangelhaft die Vorbereitung eines Kindes für sein späteres Leben ist, wenn es frühzeitig, sozusagen im Protest gegen das Leben, in Entbehrungen und Mangel aufwächst und täglich das bessere Leben der anderen vor sich, in seiner nächsten Nähe sieht, dabei auch in der Entwicklung seines Gemeinschaftsgefühls keinerlei Förderung erfährt. Eine sehr gute, lehrreiche Illustration dazu gibt die Untersuchung des Dr. Young über die Verbrechensgestaltung in einer eingewanderten Sekte. In der ersten Generation, die abgeschlossen und dürftig lebte, gab es keinen Verbrecher. In der zweiten Generation, deren Kinder bereits die öffentlichen Schulen besuchten, aber noch immer in den Traditionen ihrer Sekte, in Frömmigkeit und Dürftigkeit erzogen waren, zeigte sich bereits eine größere Zahl von Verbrechern. In der dritten Generation gab es eine erschreckend große Zahl von solchen.
Auch der »geborene Verbrecher« ist eine abgetane Kategorie. Man wird zu solchen Irrtümern oder zur Idee des Verbrechers aus Schuldgefühl nur kommen können, wenn man unsere Ermittlungen nicht berücksichtigt, die immer wieder auf das schwere Minderwertigkeitsgefühl in der Kindheit, auf die Ausgestaltung des Überlegenheitskomplexes und auf das mangelhaft entwickelte Gemeinschaftsgefühl hinweisen. Man findet eine große Zahl von Organminderwertigkeitszeichen unter den Verbrechern, und in der Schockwirkung einer Verurteilung stärkere Schwankungen des Stoffgrundumsatzes als Wahrscheinlichkeitszeichen einer Konstitution, die schwerer als andere zum Äquilibrium gelangt. Man findet eine übergroße Zahl von Menschen, die verzärtelt wurden oder sich nach Verwöhnung sehnen. Und man findet ehemals vernachlässigte Kinder unter ihnen. Man wird sich immer von diesen Tatsachen überzeugen können, wenn man nur nicht mit einer Phrase, mit einer engen Formel an die Prüfung geht. Die Tatsache der Organminderwertigkeiten zeigt sich oft auffallend in der gelegentlichen Häßlichkeit von Verbrechern. Der stets zu erhärtende Verdacht auf Verwöhnung wird wach angesichts der vielen hübschen Menschen, die man unter ihnen findet.
N. war solch ein hübscher Bursche, der nach sechsmonatiger Haft auf Bewährung aus dem Gefängnis entlassen wurde. Sein Delikt war Diebstahl. einer ansehnlichen Summe aus der Kasse seines Chefs. Trotz der großen Gefahr, bei einem weiteren Straffall seine dreijährige Haft absitzen zu müssen, stahl er nach kurzer Zeit wieder eine kleine Summe. Bevor die Sache ruchbar wurde, sandte man ihn zu mir. Er war der älteste Sohn einer sehr ehrbaren Familie, der verwöhnte Liebling seiner Mutter. Er zeigte sich äußerst ehrgeizig und wollte überall den Führer spielen. Freunde suchte er nur solche, die unter seinem Niveau standen, und verriet so sein Minderwertigkeitsgefühl. In seinen ältesten Kindheitserinnerungen war er stets der Empfangende. In der Stellung, in der er den großen Diebstahl verübte, sah er die reichsten Leute um sich, in einer Zeit, da sein Vater um seine Stellung gekommen war und für die Familie nicht wie sonst sorgen konnte. Flugträume und geträumte Situationen, in denen er der Held war, kennzeichnen sein ehrgeiziges Streben und zugleich sein Prädestinationsgefühl in bezug auf sicheres Gelingen. Bei einer verlockenden Gelegenheit erfolgte der Diebstahl in dem Gedanken, sich nun dem Vater überlegen zeigen zu können. Der zweite, kleine Diebstahl erfolgte im Protest gegen die Bewährungsfrist und gegen die untergeordnete Stellung, die er nun innehatte. Als er im Gefängnis war, träumte er einst, daß man ihm seine Lieblingsspeise vorgesetzt hätte, erinnerte sich aber im Traume, daß dies doch im Gefängnis nicht möglich sei. Man wird außer der Gier in diesem Traume leicht auch seinen Protest gegen das Urteil wahrnehmen können.
Weniger Aktivität wird man in der Regel bei Süchtigen finden. Umgebung, Verleitung, Bekanntschaft mit Giften wie Morphium und Kokain in Krankheiten oder im ärztlichen Beruf finden sich als Gelegenheiten, die sich aber nur in Situationen auswirken, in denen der Betroffene vor einem unlösbar erscheinenden Problem steht. Ähnlich wie beim Selbstmord, fehlt selten der verschleierte Angriff auf andere, denen die Sorge um den Befallenen zufällt. In der Trunksucht dürfte, wie ich gezeigt habe, eine besondere