So redeten sie weiter. Immer weiter redeten sie von Emil und Willem und von seinem Menu mit sieben Gängen, alles auf französisch. Aber dieses Französisch hatten sie ganz gut verstanden. Sie redeten weiter, sie erhitzten sich und wurden wieder verdrossen – es kam nichts heraus dabei, es war das Gewohnte –, aber die Zeit verging ihnen darüber.
Gertrud Gudde stand auf ihrem neunzehnten Platz. Sie hörte das Gerede an, und sie überhörte es. Die eisige Kälte stieg hoch in ihr, aber es war nicht nur die Winterkälte, die sie so frieren machte. Urlaub, dachte sie. Schon über zwei Jahre ist er draußen und hat doch noch keinen Urlaub gehabt. Ich schreibe nicht davon, und er schreibt nicht davon, aber jeder Mann an der Westfront hat in dieser Zeit mindestens zweimal Urlaub gehabt. Nur er …
Sie fängt wieder an zu grübeln, was sie schon hundertmal, schon tausendmal durchgegrübelt hat: Warum er nicht kommt? Er weiß Bescheid, wie es zu Haus aussieht; obwohl sie nie etwas von der Lebensmittelknappheit in ihren Briefen erwähnt hat, klingelt dann und wann ein Urlauber an ihrer Wohnungstür. Er gibt ein Eßpaket ab: ein bißchen Schmalz, zwei Pfund Speck, Zucker, auch einmal Linsen …
»Warum kriegt Otto denn keinen Urlaub?« fragt sie dann die Urlauber.
Sie zucken verlegen die Achseln, sie sehen sie an, sie sagen: »Ich weiß nicht, vielleicht will er nicht …«
Sie sehen sie an, und schon mag sie nicht mehr weiter fragen. Sie haben sie so komisch angesehen, vielleicht denken sie: Wenn ich eine Frau hätte, die so aussieht wie du, würde ich auch nicht auf Urlaub fahren …
Zuerst hat sie gedacht, daß er wirklich keinen Urlaub bekommt, weil er untüchtig ist … Aber wie dann die Nachricht vom Eisernen Kreuz kam, und dann, daß er Unteroffizier geworden war … Das konnte es nicht sein, daß er nicht durfte, er wollte vielleicht wirklich nicht …?
Die redeten und redeten. Es machte so eiskalt, dies Gerede, die Welt wurde völlig trostlos, kein Mensch, der noch fröhlich lachte. Wenn sie jetzt lachten, verzogen sie das Gesicht zu einem bitteren Grinsen. Sie zwingt sich, sie will an etwas anderes denken, sie denkt an ihr Kind. Gustäving bat: »Mutti, erzähl noch mal. Das Märchen vom Bäckerladen!«
Und sie erzählt ihm das Märchen vom Bäckerladen, aber es ist gar kein Märchen. Sie erzählt bloß, wie sie vor drei Jahren, ja, wie sie noch vor zwei Jahren in einen Laden ging und zeigte: Da, acht Schrippen. Vier Schnecken mit Zuckerguß, zwei Brote …
»Aber zwei Brote hat er dir doch nicht gegeben?! Wie? Mutti!«
Doch, er hatte zwei Brote gegeben. Er hatte sogar Dankeschön gesagt, er hatte sich bei ihr bedankt, weil sie so viel gekauft hatte. Unbegreiflicher Widersinn! Das Kind sitzt dabei, seine Augen leuchten. Die Mutter muß zeigen, wie sie das Brot nach Haus gebracht hat. Sie muß vormachen, wie sie davon abgeschnitten hat, so viel für den Papa, so viel für die Mutti, so viel für Gustäving …
»Zeig noch mal! Oh, Mutti, das könnte ich nie aufessen!« Und dann, eifrig nickend: »Doch! Doch! Versuch es mal – ich schaffe es! Wollen wir es nicht mal probieren? Nur ein einziges Mal, bitte, bitte, Mutti!«
Und nun, als Ende, das nie aufhörende Betteln, um ein Stückchen Brot, ein Scheibchen, eine halbe Scheibe, ach, eine Rinde nur …
Eiseskälte aus dem, was sie reden, wie aus dem, was man denkt. Man kann es anfangen, wie man will …
Aber jetzt braucht man nicht mehr zu denken. Die Frau vor Gertrud Gudde sagt aufgeregt: »Er zieht schon die Rolläden hoch! Wenn mir bloß nicht wieder einer in die Holzpantinen tritt! Das letztemal habe ich fünfzehn Plätze dadurch verloren. Passen Sie ein bißchen auf, junge Frau, ja?«
Und dann kommt der Ansturm – natürlich ist kein Schutzmann da. Die gehen gerne in großem Bogen um solche Ansammlungen herum, schon damit sie nicht hören müssen, was die Frauen alles reden! Die Woge der Stürmenden faßt Gertrud Gudde, trägt sie mit sich, wirbelt sie in die Ladentür … Einen Augenblick meint sie, ihr Arm bricht – so sehr wird er gegen den Türrahmen gepreßt. Aber nun ist sie schon durch die Tür – o Glück, die Woge preßt sie direkt gegen den Ladentisch als eine der ersten …
»Na, wieviel denn, junge Frau?« fragt der dicke Meister.
»Was ich kriegen kann …«
Und schon wird ihr ein Stück Schweinekopf über den Tisch zugeschoben, sie staunt, sie sieht die weiße bleiche Haut an, das tief rote, stark durchblutete Fleisch: ein Stück Schweinebacke, fast zwei Pfund Fett und Fleisch! Eilig geht sie, mit gesenktem Kopf, die Tasche eng gegen die Brust gedrückt, schiebt sie sich durch die anderen, die noch nichts haben, die vielleicht ohne alles werden abziehen müssen – die Armen!
Sie lächelt selig. Frühes Aufstehen, Kälte, Warten, Verzweiflung – alles ist vergessen: Sie hat ein großes Stück Schweinebacke, fast zwei Pfund Fleisch und Fett!
Sie eilt die Treppen hinauf. Aber hier, direkt vor ihrer Wohnungstür, stutzt sie. Die Freude verfällt. Sie legt der hockenden Gestalt die Hand auf die Schulter.
»Was ist denn, Eva?«
Eva hebt ein verschwollenes, rotes Gesicht. »Vater hat mich rausgeschmissen, Tutti«, flüstert sie. »Kann ich zu dir reinkommen?«
»Gerne«, sagt Gertrud Gudde und schließt die Wohnungstür auf.
3 Hackendahl wird wieder klein
Der Aufschwung, den die neuen Pferde Gustav Hackendahl gegeben hatten, war längst wieder vorüber. Mit den Pferden war die Sorge um die Kutscher gekommen und hatte nie aufgehört. Diese Kerle, die man da auf den Bock gesetzt hatte, die nichts von Pferden verstanden, die nicht fahren konnten, die keine Straße wußten, denen es ganz egal war, ob sie Fahrgäste hatten oder keine, die Hauptsache, am Abend gab’s den Garantielohn – diese Kerle, uralt oder ganz jung, hatten den alten Hackendahl halb zu Tode geärgert.
Und zu der Sorge wegen der Kutscher war die Sorge um das Futter gekommen. Ja, so lange man noch Hafer auf dem Boden zu liegen hatte, konnte man gut sagen: Es sind ja nur Russenpferdchen, und zur Not leben sie auch von Stroh. Als dann aber wirklich die Futternot anfing, als die Bezugscheine nie reichten, als den Pferden rationiert wurde wie den Menschen, da mußte man zugeben: Jawohl, vielleicht können sie wirklich nur von Stroh leben, aber dann tun sie eben nichts, dann stehen sie bloß im Stall. Wenn sie aber arbeiten, dann wollen sie auch fressen! Und sie mußten arbeiten, sie mußten Geld verdienen, alles wurde teurer, und das Geld wurde immer knapper, es wurde so nötig gebraucht!
Ja, auch mit dem Geld war es knapp geworden im Hause Hackendahl. Viel Bargeld war an Eggebrecht gegangen für die »Katzen«, und was sonst so da war, das hatte Hackendahl für Kriegsanleihe gezeichnet, und nun war es festgelegt. Hätte er es sich damals besser überlegt, er hätte ja nicht alle Ersparnisse in Kriegsanleihe festlegen müssen. Aber es sollte eine große Summe sein, die der Gustav Hackendahl zeichnete. Und so wurde es eine große Summe. Es schadete ja auch nichts, denn: »Was wir zum Leben brauchen, das bringt der Droschkenbetrieb uns immer ein, Mutter.«
Aber es sah nicht so aus, als ob er das tun würde, er brachte nichts, und an manchem Freitag, dem Lohntag, mußte Hackendahl kratzen und kratzen, um den Kutscherlohn zusammenzukriegen. Das Geld wurde so knapp, wie es noch nie gewesen war! Man hätte doch zum Beispiel denken sollen, ein Haushalt, in dem zwei Söhne und eine Tochter fehlen, ist billiger als ein Haushalt, in dem sie sich alle Tage mit an den Tisch setzen. I wo, der Haushalt wurde teurer!
Denn da waren die endlosen Päckchen, die Mutter ewig ins Feld schickte, und die guten Fettigkeiten, die in den Päckchen waren, die waren Hamsterware, also teuer! Und wenn man auch zugeben mußte, daß weder Otto noch Sophie je um Geld schrieben, so war der Erich um so teurer. Ewig brauchte der Junge etwas: eine seidene Feldmütze, Eigentumsschuhe, eine Reithose aus Kordstoff. Dafür war er aber auch schon Offiziersstellvertreter und hatte einen Druckposten, in Lille, in der Etappe, und Mutter brauchte nicht in einem fort um ihn zu weinen.
Nein, das Geld blieb nicht bei