»Was für ein Unglück?« frug ich.
»Das Unglück meiner Einsperrung,« entgegnete sie, allem Anscheine nach erstaunt über meine Frage; »welch anderes Unglück könnte es sonst noch für mich geben?«
Ich beschloß, so zart und schonend wie möglich fortzufahren. Es war von der größten Wichtigkeit, daß jeder Schritt, den ich jetzt in meiner Nachforschung vorwärts that, mit Sicherheit ausgeführt wurde.
»Es gibt noch ein anderes Unglück,« sagte ich, »das einem Weibe widerfahren und ihm lebenslänglichen Kummer und lebenslängliche Schande bereiten kann.«
»Welches ist das?« frug sie begierig.
»Das Unglück, zu unschuldsvoll an die eigene Tugend und an die Redlichkeit und Treue des Mannes zu glauben, den man liebt,« erwiderte ich.
Sie sah mit dem ungekünstelten Ausdrucke des Nichtbegriffenhabens eines Kindes zu mir auf. In ihrem Gesichte zeigte sich nicht die kleinste Spur von Verwirrung oder Erröthen oder auch nur des geheimsten Bewußtseins der Schande – dieses Gesicht, das jede andere Bewegung so deutlich verrieth. Kein gesprochenes Wort hätte mich so wie ihr Blick und Benehmen überzeugen können, daß der Beweggrund, den ich ihrem Schreiben und Absenden des anonymen Briefes an Miß Fairlie unterlegte, unzweifelhaft der verkehrte sei. Dieser Zweifel war wenigstens jetzt beseitigt; aber dieser Umstand selbst brachte uns neue Ungewißheit. Der Brief bezeichnete, wie ich nach entschiedenen Indicien wußte, Sir Percival Glyde, obgleich er ihn nicht nannte. Sie mußte einen starken Beweggrund haben, welcher aus einer tiefen Verletzung entsprang, und ihn heimlich und in solchen Ausdrücken, wie sie gebraucht hatte, bei Miß Fairlie anzuklagen und dieser Beweggrund lag offenbar nicht in dem Verluste ihrer Unschuld und ihres Friedens, welches Unrecht er ihr auch zugefügt haben mochte, es war nicht dieser Art. Worin konnte es nur bestehen?
»Ich verstehe Sie nicht,« sagte sie, nachdem sie offenbar lange, aber vergebens versucht hatte, die Bedeutung meiner letzten Worte zu fassen.
»Es thut Nichts,« entgegnete ich. »Lassen Sie uns mit dem fortfahren, wovon wir sprachen. Sagen Sie mir, wie lange Sie bei Mrs. Clements in London blieben und wie es zuging, daß Sie hierher kamen?«
»Wie lange?« wiederholte sie. »Ich blieb bei Mrs. Clements, bis wir beide vor zwei Tagen hierher kamen.«
»Dann wohnen Sie hier im Dorfe?« sagte ich. »Es ist eigen, daß ich noch nicht von Ihnen gehört habe, obgleich Sie erst zwei Tage hier sind.«
»Nein, nein; nicht im Dorfe. Drei Meilen (engl.) von hier auf einem Gehöfte. Kennen Sie das Gehöfte? Es wird Todd’s Ecke genannt.«
Ich erinnerte mich des Gutes vollkommen; wir waren auf unseren Spazierfahrten oft daran vorbeigekommen. Es war eins der ältesten Gehöfte der Gegend und lag landeinwärts an einer einsamen, geschützten Stelle am Fuße zweier Hügel.
»Die Leute zu Todd’s Ecke sind Verwandte von Mrs. Clements,« fuhr sie fort, »und hatten sie oft gebeten, sie zu besuchen. Sie sagte, sie wolle zu ihnen reisen und mich mitnehmen, damit ich Ruhe und frische Landluft genießen könne, war das nicht sehr freundlich von ihr? Ich wäre überall hingegangen, um nur in Ruhe und Sicherheit und Verborgenheit zu sein. Aber als ich hörte, daß Todd’s Ecke nahe bei Limmeridge sei – o! da war ich so glücklich, daß ich gern den ganzen Weg barfuß zurückgelegt hätte, um das Dorf und die Schule und Limmeridge wiederzusehen. Die Leute zu Todd’s Ecke sind sehr freundlich. Ich hoffe, ich werde eine lange Zeit bei ihnen bleiben können. Nur Eins gefällt mir nicht an ihnen und gefällt mir nicht an Mrs. Clements –«
»Was ist das?«
»Sie quälen mich, weil ich mich immer ganz weiß kleide – sie sagen, es sieht so auffallend aus. Was wissen sie davon? Mrs. Fairlie verstand das am besten. Mrs. Fairlie hatte mich niemals diesen garstigen blauen Mantel tragen lassen. Ach! sie hatte Weiß so gern, als sie noch lebte, und hier ist ein weißer Stein an ihrem Grabe und aus Liebe zu ihr mache ich ihn noch weißer. Sie selbst trug sehr oft Weiß und kleidete ihre kleine Tochter immer in Weiß. Ist Miß Fairlie wohl und glücklich? Trägt sie noch Weiß, wie damals, als sie ein kleines Mädchen war?«
Ihre Stimme wurde leiser, als sie diese Fragen über Miß Fairlie that, und sie wandte ihren Kopf mehr und mehr von mir ab. Es war mir, als entdeckte ich in der Veränderung ihres Wesens ein unruhiges Bewußtsein der Gefahr, welcher sie sich ausgesetzt, indem sie den anonymen Brief absandte und ich beschloß sogleich, meine Antwort zu einzurichten, daß sie es mir in ihrer Ueberraschung bekannte.
»Miß Fairlie war heute Morgen nicht sehr wohl oder verstimmt,« sagte ich.
Sie murmelte ein paar Worte vor sich hin; doch waren sie so verwirrt und so leise gesprochen, daß ich den Sinn nicht einmal errathen konnte.
»Frugen Sie mich, warum Miß Fairlie heute Morgen weder wohl noch glücklich war?« fuhr ich fort.
»Nein,« sagte sie schnell und aufgeregt – »o nein, ich frug das nicht.«
»Ich will es Ihnen sagen, ohne daß Sie mich fragen,« fuhr ich fort, »Miß Fairlie hat Ihren Brief erhalten –.«
Sie hatte seit einiger Zeit auf ihren Knieen gelegen, indem sie sorgfältig die letzten Flecke von der Inschrift abwischte, während wir zusammen sprachen. Die ersten Worte meiner letzten Rede ließen sie mit ihrer Beschäftigung innehalten und langsam, ohne sich von ihren Knieen zu erheben, ihr Gesicht mir zuwenden; die letzten aber ließen sie förmlich erstarren. Das Tuch entfiel ihren Händen, ihre Lippen öffneten sich und die wenige Farbe, die in ihrem Gesichte noch übrig war, schwand gänzlich aus ihm.
»Woher wissen Sie das?« sagte sie mit schwacher Stimme; »wer hat Ihnen denselben gezeigt?« Das Blut stieg in ihre Wangen – schnell und gewaltig, indem es sie wie ein Blitz durchfuhr, daß ihre eigenen Worte sie verrathen hatten. Sie schlug in Verzweiflung die Hände zusammen. »Ich habe ihn nicht geschrieben,« hauchte sie mühsam und erschrocken; »ich weiß Nichts davon!«
»Doch,« sagte ich, »Sie haben ihn geschrieben und wissen wohl davon. Es war unrecht von Ihnen, einen solchen Brief zu schreiben und Miß Fairlie zu erschrecken. Falls Sie irgend etwas zu sagen hatten, das recht und nothwendig für sie war zu wissen, so hätten Sie selbst nach Limmeridge House gehen und es der jungen Dame mit Ihren eigenen Lippen sagen sollen.«
Sie beugte sich über den flachen Grabstein hin, bis ich ihr Gesicht nicht mehr sehen konnte und entgegnete Nichts.
»Miß Fairlie wird ebenso gütig und freundlich gegen Sie sein, wie ihre Mutter es war, falls Sie es gut meinen,« fuhr ich fort. »Miß Fairlie wird Ihr Geheimniß bewahren und Sie nicht zu Schanden kommen lassen. Wollen Sie sie morgen auf dem Gehöfte sehen? oder wollen Sie im Garten zu Limmeridge House mit ihr zusammenkommen?«
»O, wenn ich doch sterben und bei Ihnen ruhen könnte!« murmelten ihre Lippen dicht über dem Grabsteine in Tönen leidenschaftlicher Zärtlichkeit zu der Todten da unten. »Sie wissen, wie sehr ich Ihr Kind liebe, um Ihretwillen! O Mrs. Fairlie! Mrs. Fairlie! sagen Sie mir, wie ich sie retten kann. Seien Sie noch einmal mein Liebling und meine Mutter und sagen Sie mir, was ich thun soll!«
Ich hörte, wie ihre Lippen den Stein küßten, und sah sie leidenschaftlich ihre Hände darauf legen. Der Ton und der Anblick bewegten mich tief. Ich beugte mich herab zu ihr, faßte ihre armen, hilflosen Hände sanft mit den meinigen und versuchte, sie zu beruhigen.
Es war nutzlos. Sie entzog mir schnell ihre Hände und drückte ihr Gesicht noch immer auf den Stein. Da ich jedoch die dringende Nothwendigkeit sah, sie auf jeden Fall und wie ich nur konnte, zu besänftigen, so benutzte ich den einzigen Wunsch, welchen sie in Bezug auf mich und meine Meinung von ihr fühlte – den Wunsch nämlich, daß ich sie für geeignet anerkenne, Herrin über ihre eigenen Handlungen zu bleiben, sie für zurechnungsfähig halte.
»Kommen Sie,« sagte ich sanft. »Suchen Sie sich zu fassen, sonst werden Sie mich nöthigen, meine Meinung über Sie zu ändern. Lassen Sie mich nicht denken, daß diejenige Person, welche Sie unter Aufsicht in die Anstalt schickte, eine Entschuldigung dafür –«
Die nächsten Worte erstarrten