Der Gerichtsmediziner traf ein und begann den Körper zu untersuchen. Das riesige Zimmer war nun ziemlich voll geworden. Endlich schien die blutbefleckte Frau langsam den Rummel im Haus zu bemerken.
Sie erhob sich aus dem Sessel und sprach den Butler an: „Maurice, wo sind Deine Manieren? Erkundige dich doch bitte bei diesen Herrschaften, ob Sie nicht etwas zu Essen oder zu Trinken wünschen.“
Petrie schritt nun auf sie zu und holte seine Handschellen heraus.
Er sagte zu ihr: „Das ist sehr gütig von Ihnen, Ma’am, aber das wird nicht nötig sein.“
Dann begann er, in einem außerordentlich höflichen und rücksichtsvollen Ton Morgan Farrell ihre Rechte zu verlesen.
KAPITEL VIER
Riley wurde ihre Sorgen nicht los, als die Gerichtsverhandlung begann.
Soweit schien alles glatt zu laufen. Riley selbst hatte bereits ausgesagt und dargelegt, welches Leben Jilly bei ihr haben würde. Bonnie und Arnold Flaxman hatten außerdem ausgesagt, dass Jilly dringend eine stabile Familiensituation benötigte.
Nichtsdestotrotz war Riley nicht ganz entspannt angesichts des nahenden Auftritts von Jillys Vater, Albert Scarlatti.
Sie hatte den Mann nie zuvor getroffen. Ausgehend davon, was Jilly ihr über ihren Vater erzählt hatte, erwartete Riley es, ein groteskes Ungeheuer anzutreffen.
Sie war deshalb überrascht, als sie ihn endlich vor sich sah.
Seine einst schwarzen Haare waren von grauen Strähnen durchzogen, seine düsteren Gesichtszüge, wie erwartet, von jahrelangem Alkoholismus geprägt. Trotzdem schien er in diesem Moment komplett nüchtern zu sein. Er war gut, wenn auch einfach, gekleidet und war freundlich und charmant zu allen, mit denen er sprach.
Riley fragte sich außerdem, wer die Frau war, die an Scarlattis Seite saß und seine Hand hielt. Auch sie sah aus, als hätte sie ein hartes Leben geführt. Darüber hinaus war ihr Gesichtsausdruck für Riley schwer zu interpretieren.
Wer ist sie? fragte Riley sich.
Alles was Riley über Scarlattis Ehefrau und Jillys Mutter wusste war, dass sie seit vielen Jahren verschollen war. Scarlatti hatte Jilly oft gesagt, dass sie wahrscheinlich gestorben sei.
Das hätte sie also nicht sein können, nach all den Jahren. Auch Jillys zeigte keinerlei Anzeichen, dass sie die Frau überhaupt kannte. Wer war sie also?
Nun war es an der Zeit für Jilly auszusagen.
Riley drückte ermunternd ihre Hand und das junge Mädchen nahm den Platz im Zeugenstand ein.
Jilly sah klein aus in dem großen Sessel. Ihr Blick streifte unruhig durch den Gerichtssaal, sie blickte zum Richter, machte dann Augenkontakt mit ihrem Vater.
Der Mann lächelte sie mit scheinbar aufrichtiger Wärme an, doch sie wandte ihren Blick eilig ab.
Rileys Anwalt, Delbert Kaul, fragte Jilly was sie von ihrer bevorstehenden Adoption hielt.
Riley konnte sehen, dass Jillys gesamter Körper vor emotionaler Anspannung zitterte.
„Ich möchte es mehr, als ich jemals etwas in meinem Leben gewollte habe“, sagte Jilly mit unebener Stimme. „Ich bin so, so glücklich dort bei Mom ––“
„Du meinst Ms. Paige“, hakte Kaul vorsichtig nach.
„Naja, sie ist jetzt meine Mom und das ist wie ich sie nenne. Und ihre Tochter, April, ist meine ältere Schwester. Bis ich bei ihnen eingezogen bin, hatte ich keine Ahnung wie es sich anfühlt, eine echte Familie zu haben die mich liebt und sich um mich sorgt.“
Jilly schien tapfer ihre Tränen zurückzuhalten.
Riley war sich nicht sicher, dass sie in der Lage war, dasselbe zu tun.
Dann fragte Kaul: „Könntest du dem Gericht ein bisschen darüber erzählen, wie es war mit Deinem Vater zu leben?“
Jilly schaute ihren Vater an.
Dann schaute sie auf den Richter und sagte: „Es war schrecklich.“
Sie begann dem Gericht zu erzählen, was sie Riley gestern erzählt hatte –– davon, wie ihr Vater sie für mehrere Tage in einer Kammer eingesperrt hatte. Riley schauderte es, als sie die Geschichte erneut hörte. Die meisten Menschen im Gerichtssaal schienen zutiefst berührt zu sein. Sogar ihr Vater ließ seinen Kopf hängen.
Als sie zum Ende kam, weinte Jilly tatsächlich.
„Bis meine neue Mom in mein Leben kam, hat mich jeder den ich liebte, früher oder später verlassen. Sie konnten es nicht ertragen mit Dad zu leben, weil er so schrecklich zu ihnen war. Meine Mutter, mein älterer Bruder –– sogar mein kleiner Welpe, Darby, rannte weg.“
Riley hatte einen Kloß im Hals. Sie erinnerte sich, wie Jilly geweint hatte, als sie ihr von dem Welpen erzählte, den sie vor einigen Monaten verloren hatte. Jilly dachte immer noch oft daran, was wohl aus ihm geworden war.
„Bitte“, sagte sie zum Richter, „bitte, schicken Sie mich nicht zurück in dieses Leben. Ich bin so glücklich bei meiner neuen Familie. Bitte nehmen sie mich ihnen nicht weg.“
Jilly durfte dann wieder zurück und sich neben Riley setzen.
Riley drückte ihre Hand und flüsterte ihr zu: „Das hast du richtig gut gemacht. Ich bin stolz auf dich.“
Jilly nickte und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht.
Dann präsentierte Rileys Anwalt, Delbert Kaul, dem Richter alle nötigen Unterlagen, um die Adoption abzuschließen. Er hob besonders die Einverständniserklärung hervor, die Jillys Vater unterzeichnet hatte.
Soweit Riley es beurteilen konnte, machte Kaul einen ziemlich guten Job mit der Präsentation der Unterlagen. Aber seine Art und Stimme waren uninspiriert, und der Richter, ein fleischiger, missmutiger Mann mit kleinen, runden Augen, schien ganz und gar nicht beeindruckt.
Für einen Moment drifteten Rileys Gedanken zurück zu dem bizarren Anruf, den sie gestern von Morgan Farrell bekommen hatte. Natürlich hatte Riley die Polizei von Atlanta sofort benachrichtigt. Wenn das, was die Frau gesagt hatte, stimmte, war sie mittlerweile sicherlich verhaftet worden. Riley musste sich immer wieder fragen, was dort wirklich vorgefallen war.
War es wirklich möglich, dass die zerbrechliche Frau, die sie in Atlanta kennengelernt hatte einen Mord begangen hatte?
Jetzt ist nicht die Zeit über all diese Dinge nachzudenken, ermahnte sie sich.
Als Kaul seine Präsentation beendet hatte, erhob sich Scarlattis Anwalt.
Jolene Paget war eine scharfäugige Frau in ihren Dreißigern, die Lippen welcher in einem leichten, aber fortwährenden zynischen Lächeln erstarrt zu sein schienen.
Sie sagte zum Gericht: „Mein Klient möchte diese Adoption anfechten.“
Der Richter nickte und brummte: „Das weiß ich bereits, Ms. Paget. Ihr Klient hat hoffentlich einen guten Grund parat für seinen Wunsch, seine eigene Entscheidung nun zu ändern.“
Riley bemerkte sofort, dass Paget, im Gegensatz zu ihrem eigenen Anwalt, keinerlei Notizen dabeihatte. Außerdem, ebenso im Gegensatz zu Kaul, drückten ihre Miene und Gesichtsausdruck Selbstbewusstsein aus.
Sie sagte: „Mr. Scarlatti hat einen sehr guten Grund, Euer Ehren. Er hatte seine Zustimmung unter Druck gegeben. Er befand sich in einer besonders schwierigen Zeit seines Lebens und hatte außerdem keinen Job. Und ja, er hat damals getrunken. Und er hatte eine Depression.“
Paget