Morgen rannte zum Bett hinüber.
Die Augen ihres Ehemannes waren weit aufgerissen, erstarrt in einem Ausdruck von Horror.
Er ist tot, begriff sie. Sie war nicht gestorben, Andrew war es.
Hatte er Selbstmord begangen?
Nein, das war unmöglich. Andrew hatte nichts außer Missachtung übrig für Menschen, die sich ihr Leben nahmen –– das galt auch für seinen Sohn und seine ehemalige Frau.
„Keine vernünftgen Menschen“, sagte er oft von ihnen.
Und Andrew war immer stolz darauf gewesen, selbst ein vernünftiger Mensch zu sein.
Er hatte dieses Thema immer wieder mit Morgan aufgebracht…
„Bist du eine vernünftige Person?“
Als sie den Körper genauer betrachtete, stellte sie fest, dass Andrew an mehreren verschiedenen Wunden an seinem Körper verblutet war. Da entdeckte sie ein großes Küchenmesser inmitten der blutdurchtränkten Laken.
Wer könnte das getan haben? fragte Morgan sich.
Dann ging eine merkwürdige, euphorische Ruhe auf sie nieder als sie begriff…
Ich habe es endlich getan.
Ich habe ihn umgebracht.
Sie hatte es viele Male in ihren Träumen gemacht.
Und nun, endlich, hatte sie es auch in Wirklichkeit getan.
Sie lächelte und sagte laut zur Leiche…
„Wer ist jetzt eine vernünftige Person?“
Aber sie wusste, dass sie nicht lange in diesem warmen und angenehmen Gefühl schwelgen konnte. Mord war Mord und sie wusste, dass sie die Konsequenzen hinnehmen musste.
Doch statt Furcht oder Schuld empfand sie ein tiefes Gefühl der Zufriedenheit.
Er war ein schrecklicher Mann gewesen. Und nun war er tot. Was auch immer nun geschah, es war es allemal wert.
Sie nahm den Hörer neben seinem Bett in ihre klebrige Hand und wollte schon 911 tippen als sie dachte…
Nein.
Es gibt jemanden, dem ich das zuerst erzählen will.
Es war eine freundliche Frau, die ihr vor einiger Zeit Verständnis entgegengebracht hatte und Besorgnis über ihre Lage geäußert hatte.
Bevor sie irgendetwas tat, musste sie diese Frau anrufen und ihr erzählen, dass sie sich keine Sorgen mehr um Morgans Wohlergehen machen musste.
Alles war endlich in allerbester Ordnung.
KAPITEL EINS
Riley bemerkte, dass Jilly im Schlaf ein wenig zuckte. Die Vierzehnjährige saß im Nachbarsitz mit ihrem Kopf an Rileys Schulter gelehnt. Ihr Flugzeug war mittlerweile seit ungefähr drei Stunden in der Luft und es würde noch einige Stunden dauern, bis sie in Phoenix landen würden.
Träumt sie? fragte Riley sich.
Wenn ja, hoffte Riley, dass die Träume keine bösen waren.
Jilly hatte schreckliche Erfahrungen in ihrem kurzen Leben durchmachen müssen und sie hatte immer noch viele Albträume davon. Sie war besonders nervös gewesen, seit der Brief vom Sozialamt in Phoenix angekommen war, der sie darüber informieren sollte, dass Jillys Vater seine Tochter wiederhaben wollte. Sie flogen nun nach Phoenix zu einem Gerichtstermin, welcher diese Angelegenheit ein für alle Mal klären sollte.
Riley konnte nicht anders als ebenso nervös und besorgt zu sein. Was würde aus Jilly werden, wenn der Richter ihr nicht erlauben würde bei Riley zu bleiben?
Die Sozialarbeiterin hatte gesagt, dass sie nicht dachte, dass das passieren könnte.
Aber was, wenn sie sich irrt? dachte Riley.
Jillys gesamter Körper begann heftiger zu zucken. Sie begann leise zu wimmern.
Riley schüttelte sie vorsichtig und sagte: „Wach auf, Liebling. Du hast nur einen bösen Traum.“
Jilly setzte sich ruckartig auf und starrte einen Moment lang vor sich her. Dann brach sie in Tränen aus.
Riley legte ihren Arm um sie und langte in ihre Handtasche um nach einem Taschentuch zu suchen.
Sie fragte: „Was ist los? Was hast du geträumt?“
Jilly schluchzte wortlos vor sich hin. Schließlich sagte sie: „Es war nichts. Mach dir keine Sorgen.“
Riley seufzte. Sie wusste, dass Jilly Erlebnisse mit sich trug, von denen sie nicht sprechen mochte.
Sie fuhr über die dunklen Haare des Mädchens und sagte: „Du kannst mir alles erzählen, Jilly. Das weißt du doch.“
Jilly trocknete ihre Augen und putzte sich die Nase.
Endlich sagte sie: „Ich habe von etwas geträumt, das wirklich passiert ist. Vor einigen Jahren. Mein Vater hatte einen seiner ernsthaften Trinkwahne und beschuldigte mich, wie immer –– dafür, dass meine Mutter uns verlassen hatte, dafür, dass er keine Arbeit halten konnte. Gab mir die Schuld an allem. Er sagte, er wollte mich aus seinem Leben raushaben. Er griff mich am Arm und schleppte mich in eine Kammer, schubste mich rein, verschloss die Tür und…“
Jilly wurde still und schloss ihre Augen.
„Bitte erzähl es mir“, sagte Riley.
Jilly schüttelte sich und fuhr fort: „Ich hatte erst Angst zu schreien, weil ich dachte, er würde mich wieder rausholen und schlagen. Er ließ mich einfach dort drin, als hätte er mich vergessen. Und dann…“
Jilly unterdrückte einen Schluchzer.
„Ich weiß nicht, wie viele Stunden vergangen waren, aber alles wurde ganz ruhig. Ich dachte, dass er vielleicht eingeschlafen war, oder ins Bett gegangen oder so. Aber das hielt sehr, sehr lange so an und alles blieb so still. Endlich begriff ich, dass er das Haus verlassen haben musste. Er machte das manchmal. Er verschwand über Tage und ich wusste nie, wann er zurück sein würde, oder ob er jemals zurück sein würde.“
Riley fuhr zusammen, als sie sich versuchte vorzustellen, wie sich das arme Kind gefühlt haben musste.
Jilly sprach weiter: „Endlich begann ich zu schreien und an die Tür zu hämmern, aber natürlich konnte mich niemand hören und ich konnte nicht raus. Ich war alleine in dieser Kammer für… ich weiß immer noch nicht wie lange es gewesen war. Wahrscheinlich Tage. Ich hatte nichts zu essen und ich konnte nicht schlafen, weil ich so hungrig war und solche Angst hatte. Ich musste dort drin sogar auf Toilette gehen und das später alles wegmachen. Ich begann komische Dinge im Dunkeln zu hören und zu sehen –– ich nehme an, es waren Halluzinationen. Ich habe wohl ein bisschen den Verstand verloren.“
Kein Wunder, dachte Riley in Horror.
Jilly sagte: „Als ich wieder Geräusche im Haus hörte, dachte ich erst, ich bilde es mir nur ein. Ich schrie auf und Dad kam zur Kammer und schloss sie auf. Er war nun stocknüchtern und schien überrascht mich dort zu entdecken. ‚Wie bist du denn da reingekommen?‘ fragte er. Er tat total entrüstet darüber, dass ich mich in so eine Lage begeben hatte und behandelte mich für eine kurze Weile nach diesem Vorfall ganz ok.“
Jillys Stimme war nun beinahe zu einem Flüstern abgeebbt, als sie hinzufügte: „Meinst du er bekommt das Sorgerecht für mich?“
Riley schluckte einen harten Knoten der Aufregung hinunter. Sollte sie dem Mädchen, welches sie immer noch als ihre eigene Tochter adoptieren wollte, ihre eigenen Ängste mitteilen?
Sie konnte sich nicht dazu bringen.
Stattdessen sagte sie…
„Ich bin mir sicher, dass er es nicht