Der Steppenwolf hatte also zwei Naturen, eine menschliche und eine wölfische, dies war sein Schicksal, und es mag wohl sein, daß dies Schicksal kein so besonderes und seltenes war. Es sollen schon viele Menschen gesehen worden sein, welche viel vom Hund oder vom Fuchs, vom Fisch oder von der Schlange in sich hatten, ohne daß sie darum besondre Schwierigkeiten gehabt hätten. Bei diesen Menschen lebte eben der Mensch und der Fuchs, der Mensch und der Fisch nebeneinander her, und keiner tat dem andern weh, einer half sogar dem andern, und in manchem Manne, der es weit gebracht hat und beneidet wird, war es mehr der Fuchs oder Affe als der Mensch, der sein Glück gemacht hat. Dies ist ja jedermann bekannt. Bei Harry hingegen war es anders, in ihm liefen Mensch und Wolf nebeneinander her, und noch viel weniger halfen sie einander, sondern sie lagen in ständiger Todfeindschaft gegeneinander, und einer lebte dem andern lediglich zu Leide, und wenn Zwei in Einem Blut und Einer Seele miteinander todfeind sind, dann ist das ein übles Leben. Nun, jeder hat sein Los, und leicht ist keines.
Bei unsrem Steppenwolfe nun war es so, daß er in seinem Gefühl zwar bald als Wolf, bald als Mensch lebte, wie es bei allen Mischwesen der Fall ist, daß aber, wenn er Wolf war, der Mensch in ihm stets zuschauend, urteilend und richtend auf der Lauer lag[19] – und in Zeiten, wo er Mensch war, tat der Wolf ebenso. Zum Beispiel, wenn Harry als Mensch einen schönen Gedanken hatte, eine feine, edle Empfindung fühlte oder eine sogenannte gute Tat verrichtete, dann bleckte der Wolf in ihm die Zähne und lachte und zeigte ihm mit blutigem Hohn, wie lächerlich dieses ganze edle Theater einem Steppentier zu Gesicht stehe, einem Wolf, der ja in seinem Herzen ganz genau darüber Bescheid wußte, was ihm behage, nämlich einsam durch Steppen zu traben, zuzeiten Blut zu saufen oder eine Wölfin zu jagen – und, vom Wolf aus gesehen, wurde dann jede menschliche Handlung schauerlich komisch und verlegen, dumm und eitel. Aber ganz ebenso war es, wenn Harry sich als Wolf fühlte und benahm, wenn er andern die Zähne zeigte, wenn er Haß und Todfeindschaft gegen alle Menschen und ihre verlogenen und entarteten Manieren und Sitten fühlte. Dann nämlich lag das Menschenteil in ihm auf der Lauer, beobachtete den Wolf, nannte ihn Vieh und Bestie und verdarb und vergällte ihm alle Freude an seinem einfachen, gesunden und wilden Wolfswesen.
So war dies mit dem Steppenwolf beschaffen, und man kann sich vorstellen, daß Harry nicht gerade ein angenehmes und glückliches Leben hatte. Doch soll damit nicht gesagt sein, daß er in ganz besonderem Grade unglücklich gewesen sei (obwohl es ihm selber allerdings so erschien, wie denn jeder Mensch die ihm zufallenden Leiden für die größten hält). Man sollte das von keinem Menschen sagen. Auch wer keinen Wolf in sich hat, braucht darum nicht glücklich zu sein. Und auch das unglücklichste Leben hat seine Sonnenstunden und seine kleinen Glücksblumen zwischen dem Sand und Gestein. So war es denn auch bei dem Steppenwolf. Er war meistens sehr unglücklich, das ist nicht zu leugnen, und unglücklich konnte er auch andre machen, nämlich wenn er sie liebte und sie ihn. Denn alle, die ihn liebgewannen, sahen immer nur die eine Seite in ihm. Manche liebten ihn als einen feinen, klugen und eigenartigen Menschen und waren dann entsetzt und enttäuscht, wenn sie plötzlich den Wolf in ihm entdecken mußten. Und das mußten sie, denn Harry wollte, wie jedes Wesen, als Ganzes geliebt werden und konnte darum gerade vor denen, an deren Liebe ihm viel gelegen war, den Wolf nicht verbergen und weglügen. Es gab aber auch solche, die gerade den Wolf in ihm liebten, gerade das Freie, Wilde, Unzähmbare, Gefährliche und Starke, und diesen wieder war es dann außerordentlich enttäuschend und jämmerlich, wenn plötzlich der wilde, böse Wolf auch noch ein Mensch war, auch noch Sehnsucht nach Güte und Zartheit in sich hatte, auch noch Mozart hören, Verse lesen und Menschheitsideale haben wollte. Gerade diese waren meistens besonders enttäuscht und böse, und so brachte der Steppenwolf seine eigene Doppeltheit und Zwiespältigkeit auch in alle fremden Schicksale hinein, die er berührte.
Wer nun aber meint, den Steppenwolf zu kennen und sein klägliches, zerrissenes Leben sich vorstellen zu können, der ist dennoch im Irrtum, er weiß noch lange nicht alles. Er weiß nicht, daß es (wie keine Regel ohne Ausnahme und wie ein einziger Sünder unter Umständen Gott lieber ist als neunundneunzig Gerechte) – daß es bei Harry immerhin auch Ausnahmen und Glücksfälle gab, daß er zuweilen den Wolf, zuweilen den Menschen auch rein und ungestört in sich atmen, denken und fühlen konnte, ja, daß beide manchmal, in sehr seltenen Stunden, Frieden schlossen und einander zu Liebe lebten, so daß nicht bloß der eine schlief, während der andre wachte, sondern beide einander stärkten und jeder den ändern verdoppelte. Auch im Leben dieses Mannes schien, wie überall in der Welt, zuweilen alles Gewohnte, Alltägliche, Erkannte und Regelmäßige bloß den Zweck zu haben, hie und da eine sekundenkurze Pause zu erleben, durchbrochen zu werden und dem Außerordentlichen, dem Wunder, der Gnade Platz zu machen. Ob nun diese kurzen, seltenen Glücksstunden das schlimme Los des Steppenwolfes ausglichen und milderten, so daß Glück und Leid sich schließlich die Waage hielten, oder ob vielleicht sogar das kurze, aber starke Glück jener wenigen Stunden alles Leid aufsog und ein Plus ergab, das ist nun wieder eine Frage, über welche müßige Leute nach Belieben brüten mögen. Auch der Wolf brütete[20] oft darüber, und das waren seine müßigen und unnützen Tage.
Hierzu muß eines noch gesagt werden. Es gibt ziemlich viele Menschen von ähnlicher Art, wie Harry einer war, viele Künstler namentlich gehören dieser Art an. Diese Menschen haben alle zwei Seelen, zwei Wesen in sich, in ihnen ist Göttliches und Teuflisches, ist mütterliches und väterliches Blut, ist Glücksfähigkeit und Leidensfähigkeit ebenso feindlich und verworren neben- und ineinander vorhanden, wie Wolf und Mensch in Harry es waren. Und diese Menschen, deren Leben ein sehr unruhiges ist, erleben zuweilen in ihren seltenen Glücksaugenblicken so Starkes und unnennbar Schönes, der Schaum des Augenblicksglückes spritzt zuweilen so hoch und blendend über das Meer des Leides hinaus, daß dies kurze aufleuchtende Glück ausstrahlend auch andere berührt und bezaubert. So entstehen, als kostbarer flüchtiger Glücksschaum über dem Meer des Leides, alle jene Kunstwerke, in welchen ein einzelner leidender Mensch sich für eine Stunde so hoch über sein eigenes Schicksal erhob, daß sein Glück wie ein Stern ausstrahlt und all denen, die es sehen, wie etwas Ewiges und wie ihr eigener Glückstraum erscheint. Alle diese Menschen, mögen ihre Taten und Werke heißen wie sie wollen, haben eigentlich überhaupt kein Leben, das heißt, ihr Leben ist kein Sein, hat keine Gestalt, sie sind nicht Helden oder Künstler oder Denker in der Art, wie andere Richter, Ärzte, Schuhmacher oder Lehrer sind, sondern ihr Leben ist eine ewige, leidvolle Bewegung und Brandung, ist unglücklich und schmerzvoll zerrissen und ist schauerlich und sinnlos, sobald man den Sinn nicht in ebenjenen seltenen Erlebnissen, Taten, Gedanken und Werken zu sehen bereit ist, die über dem Chaos eines solchen Lebens aufstrahlen. Unter den Menschen dieser Art ist der gefährliche und schreckliche Gedanke entstanden, daß vielleicht das ganze Menschenleben nur ein arger Irrtum, eine heftige und mißglückte Fehlgeburt der Urmutter, ein wilder und grausig fehlgeschlagener Versuch der Natur sei. Unter ihnen ist aber auch der andere Gedanke entstanden, daß der Mensch vielleicht nicht bloß ein halbwegs vernünftiges Tier, sondern ein Götterkind und zur Unsterblichkeit bestimmt sei.
Jede Menschenart hat ihre Kennzeichen, ihre Signaturen, jede hat ihre Tugenden und Laster, jede ihre Todsünde. Es gehörte zu den Zeichen des Steppenwolfes, daß er ein Abendmensch war. Der Morgen war für