Zögernd trat ich den Heimweg an, schlug den Mantelkragen hoch und stieß den Stock aufs nasse Pflaster. Mochte ich den Weg noch so langsam zurücklegen, allzubald würde ich wieder in meiner Mansarde sitzen, in meiner kleinen Scheinheimat, die ich nicht liebte und doch nicht entbehren konnte, denn die Zeit war für mich vorüber, wo ich eine winterliche Regennacht laufend im Freien verbringen konnte. Nun, in Gottes Namen, ich wollte mir die gute Abendlaune nicht verderben lassen, nicht vom Regen, nicht von der Gicht, nicht von der Araukarie, und wenn kein Kammerorchester zu haben und auch kein einsamer Freund mit einer Violine zu finden war, so klang jene holde Melodie doch in mir innen, und ich konnte sie, leise summend im rhythmischen Atemholen, doch andeutend mir selber vorspielen. Sinnend schritt ich weiter. Nein, es ging auch ohne die Kammermusik und ohne den Freund, und es war lächerlich, sich in machtlosem Verlangen nach Wärme zu verzehren. Einsamkeit ist Unabhängigkeit, ich hatte sie mir gewünscht und mir erworben in langen Jahren. Sie war kalt, o ja, sie war aber auch still, wunderbar still und groß wie der kalte stille Raum, in dem die Sterne sich drehen.
Aus einem Tanzlokal, an dem ich vorüber kam, scholl mir, heiß und roh wie der Dampf von rohem Fleisch, eine heftige Jazzmusik entgegen. Ich blieb einen Augenblick stehen; immer hatte diese Art von Musik, so sehr ich sie verabscheute, einen heimlichen Reiz für mich. Jazz war mir zuwider, aber sie war mir zehnmal lieber als alle akademische Musik von heute, sie traf mit ihrer frohen rohen Wildheit auch bei mir tief in die Triebwelt und atmete eine naive redliche Sinnlichkeit.
Ich stand einen Augenblick schnuppernd, roch an der blutigen grellen Musik, witterte böse und lüstern die Atmosphäre dieser Säle. Die eine Hälfte dieser Musik, die lyrische, war schmalzig, überzuckert und troff von Sentimentalität, die andre Hälfte war wild, launisch und kraftvoll, und doch gingen beide Hälften naiv und friedlich zusammen und gaben ein Ganzes. Untergangsmusik war es, im Rom der letzten Kaiser mußte es ähnliche Musik gegeben haben. Natürlich war sie, mit Bach und Mozart und wirklicher Musik verglichen, eine Schweinerei – aber das war all unsre Kunst, all unser Denken, all unsre Scheinkultur, sobald man sie mit wirklicher Kultur verglich. Und diese Musik hatte den Vorzug einer großen Aufrichtigkeit, einer liebenswerten unverlogenen Negerhaftigkeit und einer frohen, kindlichen Laune. Sie hatte etwas vom Neger und etwas vom Amerikaner, der uns Europäern in all seiner Stärke so knabenhaft frisch und kindlich erscheint. Würde Europa auch so werden? War es schon auf dem Wege dazu? Waren wir alten Kenner und Verehrer des einstigen Europas, der einstigen echten Musik, der ehemaligen echten Dichtung, waren wir bloß eine kleine dumme Minorität von komplizierten Neurotikern, die morgen vergessen und verlacht würden? War das, was wir „Kultur“, was wir Geist, was wir Seele, was wir schön, was wir heilig nannten, war das bloß ein Gespenst, schon lange tot und nur von uns paar Narren noch für echt und lebendig gehalten? War es vielleicht überhaupt nie echt und lebendig gewesen? War das, worum wir Narren uns mühten, schon immer vielleicht nur ein Phantom gewesen?
Das alte Stadtviertel nahm mich auf, erloschen und unwirklich stand im Grau die kleine Kirche. Plötzlich fiel mir das Erlebnis vom Abend wieder ein, mit der rätselhaften Spitzbogentür, mit der rätselhaften Tafel darüber, mit den spöttisch tanzenden Lichtbuchstaben. Wie hatten ihre Inschriften gelautet? „Eintritt nicht für jedermann.“ Und: „Nur für Verrückte.“ Prüfend blickte ich zu der alten Mauer hinüber, heimlich wünschend, der Zauber möge wieder beginnen, die Inschrift mich Verrückten einladen, das kleine Tor mich einlassen. Dort vielleicht war das, was ich begehrte, dort vielleicht würde meine Musik gespielt?
Gelassen sah die dunkle steinerne Wand mich an, in tiefer Dämmerung, zugeschlossen, tief in ihrem Traum versunken. Und nirgends ein Tor, nirgends ein Spitzbogen, nur dunkle, stille Mauer ohne Loch. Lächelnd ging ich weiter, nickte dem Gemäuer freundlich zu. „Schlaf wohl, Mauer, ich wecke dich nicht. Die Zeit wird kommen, da sie dich einreißen oder dich mit ihren habgierigen Firmenschildern bekleben, aber noch bist du da, noch bist du schön und still und bist mir lieb.“
Aus einer schwarzen Gassehschlucht dicht vor mir gespien, erschreckte mich ein Mensch, ein einsamer später Heimkehrer mit müdem Schritt, eine Mütze auf dem Kopf, mit einer blauen Bluse angetan, über die Schulter trug er eine Stange mit einem Plakat, vor dem Bauche trug er am Riemen eine offene Lade, wie sie die Verkäufer an Jahrmärkten tragen. Müde schritt er vor mir her, sah sich nicht nach mir um, sonst hätte ich ihn gegrüßt und ihm eine Zigarre geschenkt. Im Lichte der nächsten Laterne versuchte ich seine Standarte zu lesen, sein rotes Plakat an der Stange, aber es schwankte hin und her, ich konnte nichts entziffern. Da rief ich ihn an und bat ihn, mir das Plakat zu zeigen. Er blieb stehen und hielt seine Stange etwas gerade, da konnte ich tanzende, taumelnde Buchstaben lesen:
Anarchistische Abendunterhaltung! Magisches Theater! Eintritt nicht für jed …
„Sie habe ich ja gesucht“, rief ich freudig. „Was ist das mit Ihrer Abendunterhaltung? Wo ist sie? Wann?“ Er lief schon wieder.
„Nicht für jedermann“, sagte er gleichgültig, mit schläfriger Stimme, und lief. Er hatte genug, er wollte heim. „Halt“, rief ich und lief ihm nach. „Was haben Sie da in Ihrem Kasten? Ich will Ihnen etwas abkaufen.“ Ohne anzuhalten, griff der Mann in seinen Kasten, mechanisch, zog ein kleines Büchlein heraus und hielt es mir hin. Ich nahm es schnell und steckte es ein. Während ich an meinem Mantel knöpfte und Geld hervorsuchen wollte, bog er seitwärts in einen Torweg, zog das Tor hinter sich zu und war verschwunden. Im Hof klangen seine schweren Schritte, auf Steinpflaster erst, dann auf einer hölzernen Treppe, dann hörte ich nichts mehr. Und plötzlich war auch ich sehr müde und hatte das Gefühl, es sei sehr spät und es sei gut, jetzt heimzukommen. Ich lief rascher und war bald durch die schlafende Vorstadtgasse in meine Gegend zwischen den Wallanlagen gelangt, wo in kleinen sauberen Miethäusern hinter etwas Rasen und Efeu die Beamten und kleinen Rentner wohnen. Am Efeu, am Rasen, an der kleinen Tanne vorbei erreichte ich die Haustür, fand das Schlüsselloch, fand den Drücker für das Licht, schlich an den Glastüren, an den polierten Schränken und Topfpflanzen vorüber und schloß meine Stube auf, meine kleine Scheinheimat, wo der Lehnstuhl und der Ofen, das Tintenfaß und die Malschachtel, der Novalis und der Dostojewski auf mich warteten, so, wie auf andere, auf richtige Menschen, wenn sie heimkommen, die Mutter oder Frau, die Kinder, die Mägde, die Hunde, die Katzen warten.
Als ich den nassen Mantel auszog, fiel das kleine Buch mir wieder in die Hände. Ich zog es heraus, es war ein dünnes, schlecht auf schlechtem Papier gedrucktes Jahrmarktsbüchlein, so wie jene Hefte „Der Mensch im Januar geboren“ oder „Wie werde ich in acht Tagen um zwanzig Jahre jünger?“
Aber als ich mich in den Lehnstuhl genistet und die Lesebrille aufgesetzt hatte, las ich mit Verwunderung und plötzlich aufschießendem Schicksalsgefühl auf dem Umschlag dieses Jahrmarktsheftes den Titel: „Traktat vom Steppenwolf. Nicht für jedermann.“
Und folgendes war der Inhalt der Schrift, die ich mit stets wachsender Spannung in einem Zuge las:
Tractat vom Steppenwolf
Es war einmal einer namens Harry, genannt der Steppenwolf. Er ging auf zwei Beinen, trug Kleider und war ein Mensch, aber eigentlich war er doch eben ein Steppenwolf. Er hatte vieles von dem gelernt, was Menschen mit gutem Verstande lernen können, und war ein ziemlich kluger Mann. Was er aber nicht gelernt hatte, war dies: mit sich und seinem Leben zufrieden zu sein. Dies konnte er