Billard um halb Zehn / Бильярд в половине десятого. Книга для чтения на немецком языке. Генрих Бёлль. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Генрих Бёлль
Издательство: КАРО
Серия: Originallektüre Deutsch
Жанр произведения: Зарубежная классика
Год издания: 2007
isbn: 978-5-89815-936-8
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war Hochbret unterlaufen, bei der Berechnung der statischen Unterlagen für die Eisenbahnüberführung an der Wilhelmskühle, und diesmal war es Kanders, der den Fehler entdeckte, und wieder sah sie Fähmel – zum zweiten Mal innerhalb von vier Jahren – rechnend am Schreibtisch sitzen. Wieder musste sie ihm Hochbrets und Kanders Rotstiftnotizen identifizieren; dieser Zwischenfall gab ihm die Idee ein, den verschiedenen Mitarbeitern verschiedene Farben vorzuschreiben: Kanders rot, Hochbret grün, Schrit gelb.

      Langsam schrieb sie, während ein Stück Schokolade in ihrem Munde zerging: ‚Wochenendhaus für eine Filmschauspielerin‘, schrieb, während das zweite Stück Schokolade in ihrem Mund zerging: ‚Erweiterungsbau der Societas[9], die Gemeinnützigste der Gemeinnützigen‘. Immerhin unterschieden sich die Kunden noch durch Name und Adresse voneinander, gaben die beigelegten Zeichnungen ihr das Gefühl, an Wirklichem teilzuhaben; Steine und Kunststoffplatten, Eisenträger, Glasziegel, Zementsacke, die waren vorstellbar, während Schrit, Kanders und Hochbret, obwohl sie täglich deren Adresse schrieb, unvorstellbar blieben. Sie waren nie im Büro gewesen, riefen nie an, schrieben nie. Ohne Kommentar schickten sie ihre Berechnungen und Unterlagen zurück. „Wozu Briefe?“ hatte Fähmel gesagt, „wir wollen doch hier keine Bekenntnisse sammeln, wie?“

      Manchmal nahm sie das Lexikon aus dem Bücherregal, schlug die Namen der Orte auf, die sie täglich auf Briefumschläge schrieb: Schilgenauel, 87 Einwohner, davon 83 röm.-kath., berühmte Pfarrkirche aus dem 12. Jh. mit dem Schilgenaueler Altar. Dort wohnte Kanders, dessen Personalien die Versicherungskarte preisgab: siebenunddreißig Jahre alt, ledig, röm.-kath… Schrit wohnte hoch im Norden, in Gludum, 1988 Einwohner, davon 1812 ev., 176 röm.-kath., Marinadenindustrie. Missionsschule. Schrit war achtundvierzig, verh., ev., 2 Kinder, davon 1 über achtzehn. Hochbrets Wohnort brauchte sie nicht nachzuschlagen, er wohnte in einem Vorort, in Blessenfeld, nur fünfunddreißig Omnibusminuten entfernt, und oft kam ihr der törichte Gedanke, ihn einmal aufzusuchen, sich seines Vorhandenseins zu versichern, indem sie seine Stimme hörte, ihn sah, seinen Händedruck spürte, doch sein geringes Alter, er war erst zweiunddreißig, und die Tatsache, dass er ledig war, hielt sie von solcher Intimität zurück. Obwohl das Lexikon Kanders und Schrits Wohnorte beschrieb, wie auf einem Ausweis die ausgewiesene Person beschrieben wird, Blessenfeld ihr vertraut war, blieben die drei ihr unvorstellbar, wenn sie auch monatlich Versicherungsbeträge für sie überwies, Postanweisungen ausfüllte, Zeitschriften und Tabellen an sie verschickte; sie blieben so unwirklich wie dieser Schrella, der auf der roten Karte stand, für den er immer erreichbar war, der aber in vier Jahren nicht einmal versucht hatte, ihn zu erreichen.

      Sie ließ die rote Karte, die zur Ursache seiner ersten Grobheit geworden war, auf dem Tisch liegen. Wie hatte der Herr geheißen, der gegen zehn ins Büro gekommen war und Fähmel dringend, dringend, sehr dringend zu sprechen verlangte? Groß war er gewesen, grauhaarig, mit leicht gerötetem Gesicht, roch nach exquisiten Spesenmahlzeiten, trug einen Anzug, der nach Qualität geradezu stank; Macht, Würde und herrischen Charme hatte der Herr auf eine Weise vereint, die ihn unwiderstehlich machte; in seinem Titel, den er lächelnd hinmurmelte, hatte es nach Minister geklungen – Ministerialrat, -direktor, -dirigent, und als sie leugnete, Fähmels Aufenthalt zu wissen, schoss er’s heraus, rasch, legte ihr dabei die Hand auf die Schulter: „Nun, schönes Kind, sagen Sie schon, wo ich ihn finden kann“, und sie gab es preis, wusste nicht, wie es geschehen konnte, es ruhte so tief in ihr, das Geheimnis, das ihre Witterung so eingehend beschäftigte: ‚Hotel Prinz Heinrich‘. Da wurde etwas von Schulkamerad gemurmelt, von einer Angelegenheit, die dringend, dringend, sehr dringend sei, etwas von Wehr, etwas von Waffen; er hinterließ, nachdem er gegangen war, ein Zigarrenaroma, das eine Stunde später noch Fähmels Vater zu einem aufgeregten Schnuppern veranlasste.

      „Mein Gott, mein Gott, muss das ein Kraut gewesen sein – ein Kraut!“ Der Alte schnupperte an den Wänden entlang, schob seine Nase dicht über den Schreibtisch, setzte seinen Hut auf, kam nach wenigen Minuten mit dem Geschäftsführer des Zigarrenladens zurück, in dem er schon seit fünfzig Jahren kaufte, und sie standen beide eine Weile schnuppernd in der Tür, gingen im Büro hin und her wie aufgeregte Hunde, der Geschäftsführer kroch unter den Schreibtisch, wo offenbar eine ganze Rauchwolke sich erhalten hatte, stand auf, klopfte sich die Hände ab, lächelte triumphierend und sagte: „Ja, Herr Geheimrat, das war eine Partagas Eminentes.“

      „Und Sie können mir die besorgen?“

      „Sicher, ich habe sie vorrätig.“

      „Wehe Ihnen, wenn das Aroma nicht das gleiche ist, das ich hier gerochen habe.“

      Der Geschäftsführer schnüffelte noch einmal, sagte: „Partagas Eminentes, dafür lass ich mich köpfen, Herr Geheimrat. Vier Mark pro Stück. Möchten Sie welche?“

      „Eine, lieber Kolbe, eine. Vier Mark, so hoch war der Wochenlohn meines Großvaters, und ich respektiere die Toten, hab meine Sentimentalitäten, wie Sie wissen. Mein Gott, dieses Kraut schlägt die zwanzigtausend Zigaretten tot, die mein Sohn hier schon geraucht hat.“

      Sie empfand es als hohe Ehre, dass der Alte seine Zigarre in ihrer Gegenwart rauchte; er lehnte sich zurück im Sessel seines Sohnes, der zu groß für ihn war; sie schob ihm ein Kissen in den Rücken, hörte ihm zu, während sie der makellosesten aller Beschäftigungen nachging: frankieren. Langsam die Rückseite des grünen, des roten, des blauen Heuss übers Schwämmchen gezogen, sauber in die rechte obere Ecke von Briefumschlägen geklebt, die nach Schilgenauel, Gludum und Blessenfeld reisen würden. Exakt, während der Alte einem Genuss frönte, den er seit fünfzig Jahren vergebens gesucht zu haben schien.

      „Mein Gott“, sagte er, „jetzt weiß ich endlich, was eine Zigarre ist, liebes Kind. Musste ich so lange darauf warten, bis zu meinem achtzigsten Geburtstag – nun, lassen Sie, regen Sie sich doch nicht auf, natürlich, heute werd ich achtzig – also, Sie waren’s nicht, die die Blumen im Auftrag meines Sohnes für mich bestellt hat? Schön, danke, später über meinen Geburtstag, ja? Ich lade Sie herzlich zur Feier heute abend im Cafe Kroner ein – aber sagen Sie mir, liebe Leonore, warum hat man mir in den fünfzig Jahren, genaugenommen sind’s einundfünfzig Jahre – die ich bei denen kaufe, nicht einmal eine solche Zigarre vorgelegt? Bin ich etwa geizig? Ich bin’s nie gewesen, Sie wissen es. Ich habe meine Zehner-Zigarren geraucht, als ich jung war, Zwanziger, als ich ein bisschen mehr Geld verdiente, und dann Sechziger, jahrzehntelang. Sagen Sie mir, liebes Kind, was sind das für Leute, die mit so einem Ding für vier Mark im Mund über die Straße gehen, in ein Büro kommen, wieder hinaus, als ob’s ein Zigarillo für einen Groschen wäre? Was sind das für Leute, die zwischen Frühstück und Mittagessen dreimal den Wochenlohn meines Großvaters verrauchen, ein Aroma hinterlassen, dass einem alten Mann wie mir die Spucke wegbleibt und ich wie ein Köter schnüffelnd hier im Büro meines Sohnes herumkrieche? Wie? Schulkamerad von Robert? Ministerialrat, -direktor, -dirigent – oder gar Minister? Den müsst ich doch kennen. Wehr? Waffen?“

      Und plötzlich der Schimmer in seinen Augen, als wenn eine Klappe gefallen wäre: der Alte sank zurück ins erste, dritte oder sechste Jahrzehnt seines Lebens, begrub eins seiner Kinder. Welches? Johanna oder Heinrich? Über welchen weißen Sarg warf er Erdkrumen, streute er Blumen? Waren die Tränen, die in seinen Augen standen, die Tränen des Jahres 1909, in dem er Johanna begrub, des Jahres 1917, in dem er an Heinrichs Grab stand, oder waren sie aus dem Jahr 1942, in dem er die Nachricht von Ottos Tod erhielt? Weinte er an der Pforte des Irrenhauses, in dem seine Frau verschwunden war? Tränen, während die Zigarre in sanftem Kräuseln verrauchte, sie waren aus dem Jahr 1894; er begrub seine Schwester Charlotte, für die er Goldstück um Goldstück sparen wollte, auf dass es ihr besser gehe; der Sarg rutschte an den knirschenden Seilen hinunter, während die Schulkinder sangen: ‚Turmer, wohin ist die Schwalbe entflohen?‘; zirpige Kinderstimmen drangen in dieses makellos eingerichtete Büro, und die Greisenstimme sang es über ein halbes Jahrhundert hinweg; nur dieser Oktobermorgen des Jahres 1894 war wirklich: Dunst über dem Niederrhein, Nebelschwaden zogen tanzende Schleifen über Rübenäcker, in Weidenbäumen schnarrten die Krähen wie Fastnachtsklappern, während Leonore einen roten Heuss übers nasse Schwämmchen zog. Dreißig Jahre bevor sie geboren war, sangen Bauernkinder: ‚Turmer, wohin ist die Schwalbe entflohen?‘ Grüner Heuss, übers Schwämmchen gezogen. Vorsicht, Briefe an Hochbret liefen unter Ortstarif.

      Wenn


<p>9</p>

Societas f <lat.> = Gesellschaft f